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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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musste hinauf und retten, was zu retten war.
     
    Kälte an der Wange weckte sie.
    Wieder hoch auf alle Viere.
    Fleißig Bein für Bein, hoch den Berg, immer hoch den Berg.
    Ihre Knochen funktionierten noch. Zumindest reichte es für primitives Kriechen.
    Da oben, jenseits dieses Schattenloches, in das sie gestürzt war, ging die Sonne auf. Die kalten Strahlen brachen sich an der Felskante und zauberten ein wunderschönes Glitzern an den Horizont.
    Diesem Glitzern folgen, immer Bein für Bein, Arm für Arm, Bein für Bein.
     
    Irgendwann war sie oben und schaffte es, auf die Beine zu kommen.
    Der Wind trieb Papierfetzen übers Geröll. Sie erkannte Seiten aus ihrem Tagebuch. Der Einband war zerrissen und zerfleddert. Auf der Pizza war jemand herumgetrampelt. Die Bierdose war geplatzt, der Fleck des Inhaltes in der Kälte noch nicht getrocknet, aber der Schaum längst zerfallen.
    Nelli humpelte einen Schritt näher an die schwarzen Reste des Feuers. Ihr neues Kleid lag zerfetzt und halb verbrannt in der erloschenen Glut. Sonstige Klamotten, Werkzeug, Reise-Andenken, alles war wild verstreut, zertrampelt, kaum noch zu identifizieren.
    Die geleerten Satteltaschen schienen unbeschädigt. Vielleicht mangels geeignetem Werkzeug, die Dinger waren fest und zäh. Es sah aus, als habe jemand brennendes Holz hineingeschaufelt, aber sie hatten es überstanden. Der Rest war unbrauchbar. Auch ihr Bauchbeutel lag auseinandergerissen am Boden.
    Nelli untersuchte die leere Hülle und begriff, dass ihr Geld und ihre Papiere weg waren. Und dass noch etwas weiteres ganz Entscheidendes fehlte: ihr Fahrrad. Neben dem Lagerfeuer hatte sie es abgelegt gehabt.
    Sie hinkte an den Rand der Geröllebene und sah hinunter in den Spalt zwischen Fels und Gletscher. Dort unten lag ihr Fahrrad, zerschmettert und mit grotesk verdrehtem Vorderrad.
    Nun hatte sie gar nichts mehr.
     
    „Oh mein Gott! Wie sieht die denn aus?“
    Nelli hatte den Laster nicht herankommen gehört, aber sie wusste, er war da. Sie schrak aus ihrem Dämmerzustand, als jemand sie an der Schulter schüttelte. Sie musste zur Seite gesunken sein und lag nun verkrümmt am Boden.
    „Wir müssen sie hochheben, sie erfriert sonst noch“, sagte jemand.
    „Es geht schon“, krächzte Nelli in fremder Tonlage und versuchte sich umzuschauen. Der Spalt, der sich am rechten Auge öffnen ließ, reichte aus, um bunt gekleidete, fremde Menschen zu erkennen, den Schemen des bekannten Lasters dahinter und das Gesicht einer uniformierten Touristenführerin ganz nah.
    Starke Hände ergriffen sie und stellten sie auf die Beine.
    „Was ist denn passiert?“, setzte sich eine der Stimmen gegen das Gemurmel und Getuschel ringsum durch.
    „Ich bin überfallen worden. Meine Sachen, da hinten. Bitte helfen Sie mir, sie aufzusammeln, vor allem mein Fahrrad. Ich komme da nicht ran.“
    Nelli straffte sich und versuchte, allein zu stehen. Die Kreislaufschwäche legte sich. Sie fühlte sich gestärkt durch die Anteilnahme und die Lebenskraft der Menschen ringsum.
    „Das geht doch nicht. Sie muss schnellstens in ein Krankenhaus“, hörte sie eine Stimme.
    „Nein, muss ich wirklich nicht.“
    „Wann ist das passiert?“
    „Gestern Abend. Aber bitte, wenn wir erst mal meine Sachen einsammeln könnten.“
    „Da hinten?“, fragte jemand.
    „Ich schlage vor, dass ein Trupp Freiwilliger sich um die Sachen kümmert, während ich die Verletzte zum Haus fahre“, rief die Touristenführerin.
    „Nein, ich will dabei sein.“
    Hinkend setzte sich Nelli in Bewegung, schob sich durch die Touristengruppe und ging voraus zu ihrem verwüsteten Lagerplatz.
     
    Zwei Männer erklärten sich bereit, den Geröllhang nach unten zu steigen und das Fahrrad zu holen, zwei andere das Zelt samt Inhalt. Der Rest der Gruppe sammelte verwertbare Überbleibsel in Nellis Satteltaschen und alles, was Müll war, in eine Tüte.
    Nelli sammelte Kräfte. Sie konnte stehen, sie konnte gehen. Dann konnte sie auch wieder ihrer Wege gehen. Wenn nur das Fahrrad nicht völlig im Eimer war. Die beiden Männer wuchteten es über die Felskante, schoben es zu ihr heran, und einer kommentierte: „Ein paar Schrammen, ein Achter, platter Reifen, die Brems- und Lichtkabel abgerissen – ansonsten noch so gut wie einsatzfähig, würde ich sagen.“
    Nelli ergriff es am Lenker und schob es ein Stück. Die Räder drehten sich, wobei das hintere ziemlich eierte. Die Vorderbremse packte nicht. Der Sattel war schief. Mit einem Ruck drehte sie ihn

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