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In eisigen Kerkern (German Edition)

In eisigen Kerkern (German Edition)

Titel: In eisigen Kerkern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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ihr hier oben waren? Das Gefühl, das sie selbst umtrieb? Das Leben als bedroht empfinden, um ihm einen Wert abzugewinnen?
    Entschlossen wendete Nelli das Fahrrad und trat bergan. Ringsum gab es sowieso keinen Übernachtungsplatz. Sie würde die Stunde zwischen zwei Laster-Pendeltouren nutzen, um das Haus zu umfahren, versteckt das Zelt aufzuschlagen und dann noch einmal den Gletscher zu erklimmen. Sie wartete, als sie wieder in Sichtweite gekommen war, die Rückkehr der Touristengruppe ab, ließ die Führerin in der Garage einparken, die Leute vom Laster strömen, in ihre Autos einsteigen und davonfahren.
    Der Parkplatz war jetzt fast verwaist. Ruhig lag das Haus da, niemand zu sehen. Nelli nutzte die Gelegenheit, schwang sich in den Sattel, bog von der Straße unterhalb vom Parkplatz vorbei auf den Weg zum Gletscher und beeilte sich, aus der Sichtweite des Hauses zu verschwinden. Wahrscheinlich würde es heute, jetzt, am späten Nachmittag, ohnehin keine Führung mehr geben.
    Nelli fuhr den Weg zum ersten Mal bewusst. Damals war sie gefesselt und auf der schaukelnden Ladefläche gefangen gewesen, es war stockfinstere Nacht, und ihr Bewusstsein war von Schmerzen und Kälte und ihrem Kapriolen schlagenden Überlebenswillen eingeschränkt gewesen. Zurück vom Gletscher wiederum, nach ihrem Sieg über Andi, war sie so derart am Ende ihrer Kräfte gewesen, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnte, ein Wunder, dass sie es überhaupt geschafft hatte.
    Irgendwie, unbewusst, war aber etwas hängen geblieben. Nelli fand den Weg nicht fremd, obwohl sie ihn doch zum ersten Mal richtig sah. Seine Windungen und Schlaglöcher, sein felsiges Auf und Ab waren bekanntes Terrain. Und sie fand ihre Erwartung bestätigt, dass der Gletscher viel näher am Haus lag als es ihr damals hin und zurück vorgekommen war. Beide Wege vollzogen sich damals unter Qual, und Qual wirkte endlos lang, wenn man ihr Ende nicht absehen konnte.
    Zehn Minuten waren es wohl, da spürte Nelli die Kälteabstrahlung des Eiskolosses, weitere fünf Minuten, da hatte sie freien Blick auf die weißblauen Wände und Berge.
    Wo ein Fluss aus Eis floss, war nicht gut campen. Am Rande des Gletschers fand Nelli zwar manch flachen, aber leider keinen glatten Untergrund zum Zeltaufbau. Alles war voller Geröll, und es war bitterkalt hier. Sie wählte ein Schotterbett, das vom Weg nicht einsehbar war. Jenseits der paar Quadratmeter ihres Zeltplatzes war das Gelände völlig zerklüftet. Wenn es erst dunkel war, würde sie höllisch aufpassen müssen, auf dem Schotter nicht ins Rutschen zu kommen und in eine Spalte zu stürzen. Vor Spalten jeder Art hatte Nelli panische Angst seit ihrem Überlebenskampf über uneinsehbar tiefem Abgrund. Hier ganz in der Nähe war das gewesen. Sie konnte es nicht fassen, zurück zu sein.
     
    Der Schlag in die Rippen traf Nelli völlig unvorbereitet.
    Vielleicht war es auch ein Tritt oder Keulenhieb. Was es auch war, sie empfand es als schmerzvolle und luftraubende Wucht an ihrer rechten Körperseite.
    Nelli hatte ihr Außenlager aufgeschlagen und mit dem Zeltaufbau begonnen gehabt. Aus einem Rest von Holzscheiten, die sie unten im Tal gesammelt hatte, brannte ein kleines Lagerfeuer. Das Fahrrad hatte sie zur Sicherheit wegen des heftigen Windes hier oben nicht auf den Ständer gestellt, sondern hingelegt. Die Gepäcktaschen hatte sie abgenommen, ihre Essensvorräte herausgeholt und am Lagerfeuer neben dem Campingstuhl aufgestellt. Sie hatte sich am Vorabend unten im Ort eine Pizza gegönnt und die Hälfte davon aufgehoben. Dazu hatte sie noch eine Dose Bier und eine rote Paprika. Ein Festmahl, auf das sie sich freute.
    Ihr Tagebuch hatte sie auf einen flachen Stein gelegt und ihren Kugelschreiber obenauf. Heute, erstmals, würde sie wieder schreiben, und wenn es nur ein paar Zeilen waren. Nur schreibend konnte sie das Durcheinander in sich ordnen. Nur wenn sie ihre Gedanken schriftlich ausbreitete, waren sie zu überschauen und zu beurteilen. Warum war sie wirklich wieder hier? Was tat sie hier? Und worauf lief das alles hinaus? Vor allem aber: Wohin gehörte sie – langfristig? Was wollte sie aus ihrem Leben machen?
    Darüber dachte sie nach, während sie ihr Zelt aufstellte und dann hineinkroch, um ihre Iso-Folie und, wegen Kälte und Wulstigkeit des Untergrundes, noch eine zweite, dickere Schaumstoffunterlage auszubreiten. Sie war, auf alle Viere gestützt, so konzentriert auf die Tätigkeit und die Fragen in ihrem Kopf, dass sie

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