In eisigen Kerkern (German Edition)
hab auch genug gesehen.“
Sie machte eine Bewegung zur Tür, und Wächter tippte sie angedeutet an die Schulter.
„Wenn ich es nicht gemacht hätte, dann ein anderer“, raunte er ihr zu.
„Oder auch nicht. Auf so was muss man erst mal kommen.“
„Frau Prenz, ich bin nur ein einfacher Mann und kann mich nicht so gut ausdrücken, aber was wir hier bieten, ist so eine Art Läuterung, ein gutes Werk für die Menschen. Wenn sie erlebt haben, was einem passieren kann, gehen sie etwas demütiger hier raus und nehmen ihr eigenes Los nicht mehr so schwer.“
„Sie müssen sich nicht rechtfertigen. Ich hab nicht vor, irgendwie einzuschreiten. Ich hätte auch gar nicht die Möglichkeiten. Ganz abgesehen davon, dass damit erst recht eine Seifenoper draus würde.“
„Dann machen Sie doch mit. Noch mal, Nelli, Frau Prenz, bitte, denken Sie doch drüber nach. Dieser Ort fasziniert Sie doch auch, sonst wären Sie nicht zurückgekommen.“
Nelli schaute ihn an, machte eine Kopfbewegung zu einem der Tische und setzte sich.
„Wollen Sie was essen oder trinken?“, fragte Wächter eifrig.
„Nein, setzen Sie sich nur mal kurz.“
Er machte einem Gast Platz, der an ihm vorbei zur Tür wollte, legte ihm vertraulich die Hand auf die Schulter und lächelte strahlend. Nelli schüttelte innerlich den Kopf. Gegen den war Andi grundehrlich und ein Pfundskerl, dachte sie – zumindest, was die Einstellung zu seinen Gästen anging. Bei Andi hatte man das Gefühl gehabt, er sei Wirt aus Leidenschaft und freue sich ehrlich über jeden Gast, aber nicht, weil er Geld mitbrachte, sondern weil er ihm einfach hier oben in seinem Haus willkommen war.
Wächter dagegen machte aus seinem Job eine Show, und sein Lächeln und seine Gesten waren abrufbar.
„Ich bin zurückgekommen, weil ich erpresst werde“, sagte Nelli leise, als er sich endlich zu ihr gesetzt hatte.
„Erpresst?“, fragte er viel zu laut, und Nelli sah ihm an, dass er auch damit schon wieder nur Aufmerksamkeit erregen wollte.
„Halten Sie doch die Klappe. Ja, erpresst. Ein anonymer Brief an die Redaktion der Illustrierte, in der die Serie erscheint. Jemand tut so, als sei er Andi und wolle mich hierher zurückbeordern, aber in Wahrheit geht es um Geld.“
„Wer könnte denn dahinterstecken?“, fragte Wächter intensiv betroffen spielend. Vielleicht war es sogar echt.
„Das frage ich Sie.“
„Sie meinen... ich?“
Er tat so, als würde er vor Entrüstung aufspringen wollen. Nelli hätte ihm am liebsten ans Schienbein getreten.
„Nein. Was weiß ich. Es geht mir nur um Informationen. Also?“
„Das könnte praktisch jeder sein. Andi war hier sehr beliebt.“
„Bittschön“, kam es von Nellis Rücken her.
Eine der Bedienungen, eine rotgesichtige Blondine mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen und Minirock-Dirndl, stellte zwei Bierkrüge auf den Tisch und verbreitete ihr schönstes Lächeln.
„Keine Angst, ist nur Radler“, meinte Wächter so gastfreundlich-herzlich, als habe man über die schöne Bergwelt geplaudert und nicht gerade von anonymen Erpresserbriefen gesprochen.
„Ich wollte nichts.“
„Sie sind eingeladen.“
Sie schob das Glas von sich weg, zog es dann doch wieder heran und nahm einen tiefen Schluck. Das erste Radler seit Ewigkeiten. Nein, seit damals. Hier in dieser Stube. Sie trank das Glas mit einem Zug halb leer, stellte es ab und hatte wieder das Gefühl, zurück zu sein im Räderwerk des Tages, der alles verändert hatte.
„Warum sind Sie wirklich gekommen?“, fragte Wächter und schaute sie aufmerksam an.
„Ich weiß es nicht.“
„Dieser Erpresserbrief, wer auch immer den geschrieben hat, was hat er schon in der Hand?“
Nelli zuckte mit den Schultern.
„Er droht, meine Stieftochter zu entführen.“
„Präventives Lösegeld?“, fragte Wächter. „Das ist mal ne ganz neue Masche. Da können Sie zahlen, bis Sie schwarz werden.“
„Ich weiß.“
„Deswegen sind Sie auch nicht hier. Sie wollen doch nicht allen Ernstes hier in der weitläufigen Gegend ermitteln, von wem der Brief stammen könnte. Der Absender könnte in Norddeutschland sitzen, in der Schweiz, in...“
„Schon gut.“
„Überall, wo diese Zeitschrift erscheint.“
„Ich weiß. Vielleicht war es mir nur ein willkommener Grund, wieder auf Tour zu gehen. Warum erzähle ich Ihnen das überhaupt alles?“
„Sie sind noch nicht fertig mit diesem Ort hier. Bleiben Sie doch. Das könnte Ihre neue Heimat werden. Und was hätten Sie zu verlieren? Wir
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