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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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zum Waschbecken. Dann lehnte sie sich an die Wand und drehte den Hahn auf. Die Unterhose fiel ihr über die Füße. Es war eine Jungenhose, auch wenn der Schlitz zugenäht war. Sie trank.
    Ihre Kleider lagen noch immer zusammengefaltet neben dem Bett. Sie schwankte zurück, konnte sich jetzt immerhin auf den Beinen halten. Die Unterhose lag vor dem Waschbecken. Ihr Magen war zu einem großen Loch geworden, in dem es keinen Hunger mehr gab. Später wollte sie ihre Kleider anziehen. Sie gehörten ihr, und sie wollte sie anziehen. Zuerst mußte sie schlafen.
    Schlafen war das beste.
    Papa hatte den Mann in Stücke geschnitten und die Stücke ins Meer geworfen.
    Vielleicht war auch Papa tot. Er kam ja nicht.

58
    Schlagartig wurde Inger Johanne klar, daß dieser Mann immer das fünfte Rad am Wagen gewesen war.
    Nach den ersten einleitenden Floskeln drängte sich diese Erkenntnis geradezu auf. Geir Kongsbakken hatte keinerlei Ausstrahlung, keinen Charme. Obwohl sie seinem Bruder und seinem Vater nie begegnet war, hatte Inger Johanne die klare Vorstellung, daß es sich bei beiden um Menschen handelte, deren Faszination sich niemand entziehen konnte, im guten wie im schlechten. Asbjørn Revheim war ein arroganter Aufwiegler gewesen, ein großer Künstler; ein auffälliger und ausufernder Mensch, bis in den Selbstmord hinein. Astor Kongsbakken lebte noch immer in einer Aura von Anekdoten über Engagement und Raffinesse. Geir, der ältere Sohn, hatte in der Øvre Slottsgate eine kleine Anwaltskanzlei, eine Einmannfirma, von der Inger Johanne noch nie gehört hatte. Die Wände waren mit imitierter Holztäfelung verkleidet. Die Bücherregale waren schwer und braun. Der Mann hinter dem riesigen Schreibtisch war ebenfalls schwer, ohne jedoch fett zu sein. Er wirkte konturlos und uninteressant. Schüttere Haare. Ein weißes Hemd. Eine langweilige Brille. Eine monotone Stimme. Der ganze Mann schien aus den Teilen zusammengesetzt worden zu sein, die sonst niemand in seiner Familie hatte haben wollen.
    »Und womit kann ich behilflich sein«, sagte er lächelnd.
    »Ich …«
    Inger Johanne räusperte sich und fing noch einmal an.
    »Erinnern Sie sich an den Fall Hedvig, Herr Kongsbakken?«
    Er dachte nach. Die Lider senkten sich halb über die Augen.
    »Nein …«
    Er zögerte mit der Antwort.
    »Sollte ich das? Könnten Sie mir ein Stichwort geben?«
    »Der Fall Hedvig«, wiederholte sie. »1956.«
    Noch immer wirkte er leicht verwirrt. Das war auffällig. Als sie ihrer Mutter gegenüber die Sache erwähnt hatte, so ganz nebenbei, ohne weiter auf ihre Beschäftigung mit diesem Fall einzugehen, war Inger Johanne überrascht gewesen, wie genau sich ihre Mutter noch an den Mord an der kleinen Hedvig erinnern konnte.
    »Ach ja.«
    Er hob ganz leicht das Kinn.
    »Schreckliche Sache. Das war doch das kleine Mädchen, das vergewaltigt und später in … einem Sack gefunden wurde? Kann das stimmen?«
    »Genau.«
    »Doch. Das weiß ich noch. Ich war damals noch sehr jung … 1956, sagen Sie? Ich war damals erst achtzehn. In dem Alter liest man ja nicht gerade aufmerksam die Zeitungen.«
    Er lächelte, wie um sich für dieses mangelnde Interesse zu entschuldigen.
    »Vielleicht nicht«, sagte Inger Johanne. »Das kommt sicher darauf an. Da Ihr Vater jedoch die Anklage gegen den mutmaßlichen Täter vertrat, hätte ich angenommen, daß Sie sich noch gut erinnern würden.«
    »Hören Sie«, sagte Geir Kongsbakken und strich sich über den Schädel. »1956 war ich achtzehn, wie gesagt. Ich stand kurz vor dem Abitur. Mich interessierten ganz andere Dinge als die Arbeit meines Vaters. Unsere Beziehung war auch nicht gerade herzlich, wenn ich ehrlich sein soll. Auch wenn ich nicht so recht weiß, was Sie das überhaupt angeht. Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«
    Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr.
    »Lassen Sie mich gleich zur Sache kommen«, sagte Inger Johanne eilig. »Ich habe einigen Grund zu der Annahme, daß Ihr Bruder …«
    Zur Sache zu kommen war nicht so einfach, wie sie sich das vorgestellt hatte. Sie schlug die Beine übereinander und machte noch einen Versuch.
    »Ich glaube, daß Asbjørn Revheim irgend etwas mit Hedvigs Tod zu tun hatte.«
    Auf Geir Kongsbakkens Stirn zeigten sich drei tiefe Furchen. Inger Johanne musterte sein Gesicht. Trotz seiner verdutzten Miene war es überraschend neutral, sie hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie ihn bei einer späteren Begegnung auf der Straße wiedererkennen

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