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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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glaubte«, fiel Geir Kongsbakken ihr ins Wort.
    Er schien mit sich selbst zu sprechen. Er hielt eines der Bücher in der Hand. Es war groß und schwer. Inger Johanne tippte auf Versunkene Stadt, das Meer steigt. Der Goldschnitt glänzte im Schein der Deckenlampe. Der Ledereinband war dunkel, fast wie poliertes Holz.
    »Das Problem war am Ende aber, daß er nichts mehr hatte, woran er glauben konnte«, sagte er. »Es gab nichts mehr, dem gegenüber er hätte loyal sein können. Und da konnte er nicht mehr. Doch bis dahin …«
    Jetzt schluchzte er fast, dann straffte er die Schultern.
    »Asbjørn hätte einem anderen Menschen niemals etwas antun können. Nicht körperlich. Niemals. Weder mit sechzehn Jahren noch später. Das kann ich Ihnen garantieren.«
    Er hatte sich zu ihr umgedreht. Er schob sein Kinn vor. Er starrte ihr in die Augen und hatte die rechte Hand flach auf das Buch gelegt, wie auf eine Bibel, auf die er schwören wollte.
    Wie gut kennen wir unsere Nächsten, dachte Inger Johanne. Du sagst die Wahrheit. Du weißt, daß Asbjørn niemandem etwas antun konnte. Weil du ihn geliebt hast. Weil er dein einziger Bruder war. Du glaubst, es zu wissen. Du weißt, daß du es weißt. Aber ich weiß es nicht. Ich habe ihn nicht gekannt. Ich habe nur seine Bücher gelesen. Wir alle sind mehrere Menschen. Asbjørn kann ein Mörder gewesen sein, auch wenn du das nie im Leben erkennen wirst.
    » Ich würde gern mit Ihrem Vater sprechen«, sagte sie.
    Geir Kongsbakken stellte das Buch zurück ins Regal.
    »Von mir aus«, sagte er gleichgültig. »Aber dann müssen Sie nach Korsika fahren. Ich glaube nicht, daß er je wieder nach Hause kommen wird. Im Moment geht es ihm auch nicht gut.«
    »Ich habe ihn gestern angerufen.«
    »Ihn angerufen? Wegen dieses Blödsinns? Ist Ihnen eigentlich klar, wie alt er ist?«
    Wieder zeichneten sich um seine Nase herum weiße Ringe ab.
    »Ich habe Asbjørn nicht erwähnt«, sagte Inger Johanne rasch. »Im Grunde habe ich kaum etwas sagen können. Er wurde wütend. War richtig außer sich vor Zorn, wenn ich das ehrlich sagen soll.«
    »Wundert mich nicht«, murmelte Geir Kongsbakken und schaute wieder auf seine Armbanduhr.
    Inger Johanne fiel auf, daß er keinen Ehering trug. In dem braunen Büroraum gab es auch keine Fotos. Es gab überhaupt keine Hinweise auf andere persönliche Bindungen als die an einen toten Bruder, einen Autor, der sorgsam in kostbar eingebundenen Büchern aufbewahrt war, die nie gelesen wurden.
    »Ich dachte, Sie könnten vielleicht mit ihm reden«, sagte Inger Johanne. »Ihm erklären, daß ich niemandem schaden will. Ich möchte nur wissen, was damals wirklich passiert ist.«
    »Was meinen Sie mit wirklich passiert ? Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, ist wegen des Mordes an Hedvig jemand verurteilt worden. Verurteilt von einem Geschworenengericht! Damit sollte doch auf der Hand liegen, was damals passiert ist. Der Mann war schuldig!«
    »Das glaube ich nicht«, sagte Inger Johanne. »Und wenn ich die zehn Minuten, die von meiner halben Stunde noch bleiben, nutzen könnte, um Ihnen darzustellen, warum ich das nicht …«
    »Sie haben keine zehn Minuten mehr«, wehrte er ab. »Ich betrachte dieses Gespräch als beendet. Sie können gehen.«
    Er griff zu einem Ordner und fing an zu lesen, als sei Inger Johanne bereits verschwunden.
    »Vermutlich ist damals ein Unschuldiger verurteilt worden«, sagte sie. »Er heißt Aksel Seier und hat dadurch alles verloren. Zumindest als Anwalt sollten Sie das besorgniserregend finden. Als Jurist.«
    Ohne von seinen Papieren aufzublicken, sagte er:
    »Sie können mit Ihren Spekulationen einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten. Gehen Sie jetzt bitte.«
    »Wem könnte ich schaden? Asbjørn ist tot. Seit siebzehn Jahren!«
    »Gehen Sie!«
    Inger Johanne blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich und ging zur Tür.
    »Vergessen Sie die Bezahlung«, sagte Geir Kongsbakken mit harter Stimme. »Und kommen Sie nie wieder her.«
    Ein warmer Wind strich durch Oslo. Inger Johanne blieb vor Geir Kongsbakkens Kanzlei einen Moment lang zögernd stehen, dann beschloß sie, zu Fuß ins Büro zu gehen. Sie zog ihre Kostümjacke aus und stellte fest, daß ihre Achselhöhlen schweißnaß waren.
    Dieser Fall hätte schon vor langer Zeit geklärt werden müssen. Jetzt war es zu spät. Mutlosigkeit überkam sie. Jemand hätte Aksel Seier rehabilitieren sollen, als das noch möglich war.

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