In kalter Absicht
würde.
»Asbjørn«, sagte er und rückte seinen Schlips gerade. »Wie in aller Welt kommen Sie denn auf die Idee? 1956? Himmel, da war er … da war er sechzehn! Sechzehn! Und außerdem hätte Asbjørn nie …«
»Erinnern Sie sich an Anders Mohaug«, fiel sie ihm ins Wort.
»Natürlich erinnere ich mich an Anders«, erwiderte er, sichtlich irritiert. »Den Trottel. Heutzutage ist es wohl nicht mehr politisch korrekt, solche Bezeichnungen zu verwenden, aber so wurde er eben genannt. Damals. Natürlich kann ich mich an Anders erinnern. Er hing eine Zeitlang viel mit meinem Bruder zusammen. Warum fragen Sie?«
»Anders’ Mutter, Agnes Mohaug, hat sich 1965 an die Polizei gewandt. Unmittelbar nachdem Anders gestorben war. Ich weiß nur, daß sie glaubte, ihr Sohn habe 1956 den Mord an Hedvig begangen. Sie hatte ihren Sohn seither beschützt, wollte nun aber ihr Gewissen erleichtern, jetzt, wo er nicht mehr bestraft werden konnte.«
Geir Kongsbakken sah aufrichtig verwirrt aus. Er öffnete seinen obersten Hemdknopf und beugte sich dann über den Tisch.
»Na gut«, sagte er langsam. »Aber was hat das alles mit meinem Bruder zu tun? Hat Frau Mohaug behauptet, Asbjørn sei in die Sache verwickelt gewesen?«
»Nein. Das nicht. Nicht, daß ich wüßte. Ich weiß im Grunde nur sehr wenig darüber, was sie damals gesagt hat und …«
Er schnaubte und schüttelte wütend den Kopf, als er ihr ins Wort fiel:
»Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie hier machen? Diese Beschuldigungen, die Sie hier vorbringen, erfüllen absolut den Tatbestand der Verleumdung …«
»Ich beschuldige niemanden«, sagte Inger Johanne ruhig. »Ich bin hergekommen, um Ihnen einige Fragen zu stellen und Sie um Hilfe zu bitten. Und da ich ganz normal einen Termin bestellt habe, werde ich Sie natürlich auch für Ihre Zeit bezahlen.«
»Bezahlen? Sie wollen mich dafür bezahlen, daß Sie herkommen und Anschuldigungen gegen einen nahen Verwandten von mir erheben, der noch dazu tot ist und sich nicht verteidigen kann? Bezahlen!«
»Wäre es nicht besser, wenn Sie mir ganz einfach zuhörten?« fragte Inger Johanne.
»Ich habe mehr als genug gehört, danke.«
Um seine Nasenflügel herum zeichneten sich weiße Ringe ab. Er schnaubte noch immer empört. Trotzdem hatte sie in dem Mann irgendeine Form von Neugier geweckt. Das sah sie seinen Augen an, die jetzt wachsam waren, schärfer als bei ihrem Kommen, als er, ohne sie wirklich zu registrieren, sie gebeten hatte, Platz zu nehmen.
»Anders Mohaug hätte kaum auf eigene Faust handeln können«, sagte sie energisch. »Nach allem, was ich über den Jungen gehört habe, wäre er ohne Hilfe nicht einmal nach Oslo gekommen. Sie wissen sehr gut, daß er in allerlei … knifflige Situationen gelockt wurde. Von Ihrem Bruder.«
»Knifflige Situationen? Ist Ihnen klar, was Sie da sagen?«
Ein feiner Speichelregen ergoß sich über den Schreibtisch.
»Asbjørn war lieb zu Anders. Lieb! Alle anderen haben diesen Gorilla gemieden wie die Pest. Asbjørn war der einzige, der mit ihm zusammensein mochte.«
»Um zum Beispiel eine Katze als Protest gegen das Königshaus an den Galgen zu bringen?«
Geir Kongsbakken verdrehte wild die Augen.
»Eine Katze. Eine Katze! Natürlich war es nicht richtig, dieses arme Tier zu mißhandeln, aber er wurde ja schließlich auch festgenommen und mußte eine Buße bezahlen. Wurde also bestraft. Nach dieser Episode hat Asbjørn niemandem jemals etwas getan. Nicht einmal einer Katze. Asbjørn war …«
Aus dem grauen Anwalt schien alle Luft zu entweichen. Er sank in sich zusammen, und Inger Johanne glaubte zu sehen, daß seine Augen feucht wurden.
»Sicher ist das schwer zu verstehen«, sagte er und erhob sich mit steifen Bewegungen. »Aber ich habe meinen Bruder geliebt.«
Er stand jetzt vor dem Bücherregal. Seine Finger wanderten über die Rücken von sechs in Leder gebundenen Büchern.
»Das, was er geschrieben hat, habe ich nie gelesen«, sagte Geir Kongsbakken leise. »Es hat alles viel zu weh getan. Das ganze Gerede der Leute. Trotzdem habe ich diese Erstausgaben einbinden lassen. Jetzt sehen sie schöner aus, finden Sie nicht? Schön von außen, aber von innen ziemlich häßlich, wenn ich das richtig verstanden habe.«
»Das würde ich nicht behaupten«, sagte Inger Johanne. »Mir haben sie viel bedeutet, als ich sie gelesen habe. Vor allem Fieberkälte. Obwohl er darin alle Grenzen überschreitet und …«
»Asbjørn war loyal allem gegenüber, woran er
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