In kalter Absicht
Zettel hintereinander, tauschte aus, dachte nach, grübelte, beschrieb mit steifen, bandagierten Fingern neue Zettel, machte einen neuen Versuch.
Das einzige, was er wirklich im Griff hatte, war das Ende der Geschichte.
»Jacob«, rief die Kindergartenleiterin. »Wo ist Jacob?«
Marius Larsen ließ zwei Kinder los. Er fuhr herum und stellte fest, daß Jacob sich schon hundertfünfzig Meter weiter befand, unter dem Arm eines Mannes, der soeben, weiter oben auf der Straße, nach Osten zu, vor einer Garagenanlage die Tür eines Autos öffnete.
Marius rannte los.
Dabei verlor er einen Schuh.
Als er das Auto fast erreicht hatte, es fehlten höchstens noch zehn, zwölf Meter, sprang der Motor an. Mit einem Satz schoß der Wagen über den Bürgersteig und hinaus auf die Straße. Marius blieb nicht stehen. Jacob war nicht zu sehen. Er lag wohl auf dem Rücksitz. Marius warf sich gegen den Türgriff. Eine zerbrochene Bierflasche zerschnitt seine Fußsohle. Die Autotür wurde aufgestoßen, Marius verlor das Gleichgewicht, der Fahrer stieg auf die Bremse. Die Tür knallte hin und her. Jacob weinte. Marius ließ die Tür nicht los, er hatte sich festgeklammert, um das Fenster, er krallte die Finger daran fest und würde nicht loslassen. Das Auto bewegte sich wieder, ruckhaft und springend, dann beschleunigte es plötzlich, und Marius rutschte ab, seine Hände waren wie taub, und sein verletzter Fuß blutete heftig. Er lag mitten auf dem Kjelsåsvei auf dem Asphalt.
Jacob lag neben ihm und heulte.
Der Junge hatte sich beim Sturz das Schienbein gebrochen, wie sich später herausstellte. Sonst ging es ihm gut. Alles in allem betrachtet.
Ziemlich genau fünf Stunden später, um zehn vor fünf am Mittwoch nachmittag, standen Yngvar Stubø, Sigmund Berli und vier Kollegen vom Polizeirevier Asker und Bærum vor einer Wohnungstür in einem Block bei Rykkinn. Im Treppenhaus roch es nach feuchtem Beton und billigem Essen. Keine neugierigen Nachbarn lugten durch die Türen. Keine Kinder waren angelaufen gekommen, als sie ihre drei schwarzen Wagen vor dem Block abgestellt hatten, drei Autos mit schlecht getarntem Blaulicht am Kühlergrill. Alles war ruhig. Sie brauchten drei Minuten, um das Türschloß aufzustochern.
»Ich gehe davon aus, daß die Formalitäten in Ordnung sind«, sagte Yngvar Stubø und betrat die Wohnung.
»Ehrlich gesagt, das ist mir im Moment scheißegal.«
Ein Kollege aus Asker und Bærum folgte ihm. Yngvar drehte sich um und vertrat ihm den Weg.
»Im Moment müssen wir das aber ganz besonders wichtig nehmen«, sagte er.
»Sicher, sicher. Alles klar. Weg da.«
Yngvar wußte nicht, was er erwartet hatte. Nichts, nahm er an. Das war besser so. Nichts sollte ihn überraschen, nie. Er hatte sein eigenes Ritual für solche Momente. Ehe er ins Haus ging, einen kurzen, kontemplativen Moment mit geschlossenen Augen, um sein Gehirn zu leeren, sich von vorgefaßten Meinungen und mehr oder weniger fundierten Annahmen zu befreien.
Jetzt wünschte er, er hätte sich besser vorbereitet.
Norwegen befand sich in einem inoffiziellen Ausnahmezustand.
Die Nachricht verbreitete sich nur Minuten, nachdem das Ereignis stattgefunden hatte: Ein weiteres Kind hatte entführt werden sollen. Diesmal verfügte die Polizei über eine Autonummer und eine gute Personenbeschreibung. Die Fernsehsender schaufelten Sendezeit frei. Die zunächst geplanten vielen kleinen Sondersendungen entwickelten sich bald zu einer einzigen langen. In beeindruckend kurzer Zeit holten die Redaktionen Experten ins Studio, Fachleute aus allen Gebieten, die auch nur die entfernteste Relevanz für den Fall haben konnten. Nur zwei von ihnen spielten die Hase-und-Igel-Rolle: Ein bekannter Kinderpsychologe und ein pensionierter Chef der Kripo waren immer schon im Studio, egal, welche Sendung gerade begann. Ansonsten erwiesen die Sender sich als überaus erfinderisch. Manchmal sogar zu sehr, TV 2 brachte ein viertelstündiges Interview mit einem Bestattungsunternehmer. Mager, in Trauerkleidung und mit tiefem Einfühlungsvermögen beschrieb der die Trauerreaktionen von Eltern, die unter traumatischen Umständen ihre Kinder verlieren, und illustrierte das mit nur vage anonymisierten Beispielen. Die Zuschauerreaktionen fielen dermaßen heftig aus, daß der Chefredakteur noch vor Ende der Sendezeit sein persönliches Bedauern aussprechen mußte.
Ein Zeuge im Kjelsåsvei hatte beim Kidnapper einen eingegipsten Arm registriert.
Leicht verärgert über das
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