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In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
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ließ vorsichtig das Rollo hoch. Die Presse war eingetroffen. Natürlich. Sie drängten sich unten um die Haustür. Zwei schauten hoch, und Yngvar ließ das graue Rollo los. Er drehte sich zu den anderen um. Die hatten sich um Hermansen geschart, der noch immer den roten Plastikordner in der einen Hand hielt. In der anderen hatte er einen kleinen Papierstapel. Als er Yngvar ein Blatt hinhielt, konnte er die Schrift lesen, noch vom Fenster aus.
    DU HAST BEKOMMEN, WAS DU VERDIENST.
    »Das ist mit der Maschine geschrieben«, sagte Yngvar.
    »Hör jetzt auf«, sagte Sigmund. »Jetzt mußt du aufhören, Yngvar. Woher sollte dieser Kerl denn wissen …«
    » Die Zettel, die wir bei den Kindern gefunden haben, waren mit der Hand geschrieben. Mit der Hand, Leute!«
    »Willst du mit denen da draußen reden, oder soll ich das tun?«, fragte Hermansen und steckte die Papiere vorsichtig wieder in den Ordner. »Wir können ja nicht viel sagen, aber es wäre wohl natürlicher, wenn ich … wo wir doch in Bærum sind und überhaupt.«
    Yngvar Stubø zuckte mit den Schultern. Er sagte kein Wort, als er sich einen Weg durch die Menschenmenge bahnte, die sich vor dem niedrigen Wohnblock in Rykkinn zusammengedrängt hatte.
    Endlich erreichte er sein Auto und stieg ein. Er hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, daß Sigmund Berli noch kommen würde, als der Kollege sich atemlos auf den Beifahrersitz fallen ließ. Auf der Rückfahrt nach Oslo wechselten sie kaum ein Wort.

42
    »Ich begreife nicht, wie du das alles schaffst«, sagte Bente begeistert. »Das hat ja so gut geschmeckt!«
    Kristiane schlief. Sie war sonst immer unruhig, wenn Inger Johanne Gäste erwartete. Schon am frühen Nachmittag begann dann eine lange unansprechbare Phase. Sie irrte von einem Zimmer zum anderen, wollte nichts essen. Wollte nicht schlafen. An diesem Abend jedoch war sie ins Bett gefallen, mit Sulamit in dem einen Arm und einem zufrieden sabbernden Jack in dem anderen. Der König von Amerika hatte etwas in Kristiane ausgelöst, das mußte Inger Johanne sich eingestehen. An diesem Morgen hatte ihre Tochter bis halb acht geschlafen.
    »Das Rezept«, sagte Kristin. »Ich muß das Rezept haben.«
    »Gibt es nicht«, sagte Inger Johanne. »Ich habe mir einfach etwas aus den Fingern gesogen.«
    Der Wein schmeckte ihr. Es war halb neun am Mittwoch abend. Ihr Kopf kam ihr leicht vor. Ihre Schultern taten nicht weh. Die Frauen am Tisch redeten wild durcheinander. Nur Tone hatte abgesagt; sie wagte unter den gegebenen Umständen nicht, ihre Kinder allein zu lassen. Und nach dem, was an diesem Tag passiert war, schon gar nicht.
    »Sie war immer schon so ein schrecklicher Angsthase«, sagte Bente und kleckerte Wein auf die Tischdecke. »Diese Kinder haben doch einen Vater. Huch! Salz her! Mineralwasser! Tone ist so … sie hat eine so übertriebene Angst vor allem möglichen. Ich meine, wir können uns doch nicht einmauern, auch wenn dieses Ungeheuer umgeht.«
    »Jetzt schnappen sie ihn«, sagte Line. »Jetzt wissen wir ja, wer er ist. Es muß Grenzen dafür geben, wie lange er sich noch verstecken kann. Weit wird er nicht kommen. Habt ihr gesehen, daß die Polizei die Fahndung schon ausgelöst hat, mit Bild und allem Möglichen? Jetzt gieß doch nicht das ganze Wasser aus!«
    Yngvar hatte nicht angerufen. Nicht, seit Inger Johanne in der Nacht nicht ans Telefon gegangen war. Sie wußte nicht, ob ihr das leid tat. Sie hatte keine Ahnung, warum sie nicht mit ihm hatte sprechen wollen. Neulich. Jetzt wollte sie. Jetzt könnte er anrufen. Er könnte kommen, in einigen Stunden, wenn die Mädels genug gekichert hätten und aus der Wohnung geschwankt wären. Dann könnte Yngvar kommen. Sie könnten am Küchentisch sitzen und Reste aufessen und Milch trinken. Er könnte bei ihr duschen und danach ein altes Footballhemd aus den USA ausleihen. Inger Johanne könnte seine Arme anschauen, wenn er sich vorbeugte, auf die Tischplatte gestützt; das Hemd hatte kurze Ärmel und er hatte helle Haare an den Armen, als sei schon Sommer.
    »… oder was?«
    Plötzlich lächelte Inger Johanne.
    »Was?«
    »Jetzt schnappen sie ihn, oder was?«
    »Das weiß ich doch nicht!«
    »Aber dieser Typ«, Line ließ nicht locker. »Der, der mir am Samstag hier begegnet ist. Ist der nicht bei der Polizei? Das hast du doch gesagt, oder nicht? Sicher doch … bei der Kripo!«
    »Wollten wir heute nicht über ein Buch reden«, fragte Inger Johanne und holte mehr Wein aus der Küche, die Damen

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