In kalter Absicht
sich hinterher an alles erinnern. Auf dem Weg zum Kindergarten plante sie das Abendessen und entschied, wie sie Kristiane am folgenden Tag anziehen würde. Sie putzte sich die Zähne, kochte Haferbrei und las Kristiane vor, alles gleichzeitig. Wenn sie sich ein seltenes Mal mit anderen amüsieren wollte, lieferte sie ihre Tochter bei Isak oder ihren Eltern ab und schminkte sich unterwegs im Rückspiegel. So waren Frauen eben. Vor allem sie selbst.
Nur nicht bei der Arbeit.
Inger Johanne war in die Forschung gegangen, weil sie sich gern vertiefte. Aber das war nicht der einzige Grund. Sie hätte niemals Anwältin oder Büroleiterin werden können. Forschen hieß, gründlich sein zu dürfen. Eins nach dem anderen erledigen. Breit und tief blicken, sich Zeit für die Zusammenhänge nehmen. Die Forschung gab ihr die Möglichkeit zu zweifeln. Während der Alltag aus blitzschnellen Entscheidungen und mittelmäßigen Lösungen bestand, aus Kompromissen und raffinierten Tricks, gab der Beruf ihr die Möglichkeit, Dinge noch einmal zu machen, wenn sie nicht zufrieden war.
Jetzt ging alles durcheinander.
Sie hatte sich zögernd dazu bereit erklärt, den möglichen Justizirrtum zu untersuchen, dem Aksel Seier zum Opfer gefallen sein konnte, weil das für ihr Projekt von Bedeutung war. Zu irgendeinem Zeitpunkt – sie wußte selber nicht, wann – hatte der Fall begonnen, sich selbständig zu machen. Er hatte nichts mehr mit ihrer Arbeit im Institut oder mit der Forschung zu tun. Aksel Seier war ein Mysterium, das sie mit einer alten Dame teilte, das sie bisweilen anzog und unter das sie zu anderen Zeiten am liebsten einen dicken schwarzen Strich gezogen hätte.
Und dann hatte sie sich in Yngvars Arbeit hineinziehen lassen.
Ich kann mit vielen Bällen gleichzeitig jonglieren, dachte sie und nahm die Abfahrt bei Tåsenlokket. Aber nicht mit so großen. Nicht bei der Arbeit. Und nicht mit zwei anstrengenden Projekten auf einmal.
40
Es war erst elf Uhr abends, am Montag, dem 29. Mai, aber Inger Johanne lag schon seit einer Stunde im Bett. Sie hätte eigentlich todmüde sein müssen. Doch eine gewisse Unruhe, deren Ursprung sie nicht kannte, hielt sie wach. Sie schloß die Augen und dachte daran, daß an diesem Tag der Memorial Day gefeiert wurde. Cape Cod erlebte sein erstes sommerliches Wochenende. Die Fensterläden waren abmontiert worden. Die Zimmer ausgelüftet. Das Sternenbanner wehte an frisch angestrichenen Fahnenmasten, rot, weiß und blau knatterte der Nationalstolz im Wind, während die Segelboote zwischen Martha’s Vineyard und dem Festland kreuzten.
Warren war vermutlich in Orleans gewesen, um Frau und Kinder in dem Haus mit dem Blick auf Nauset Beach abzuliefern, wo sie den Sommer verbringen würden. Die Kinder mußten jetzt schon erwachsen sein. Oder doch zumindest fast. Ohne es zu wollen, fing sie an nachzurechnen. Dann zwang sie sich dazu, an Aksel Seier zu denken. Vor ihr lag die Liste der Angestellten, die zwischen 1964 und 1966 im Justizministerium beschäftigt gewesen waren. Die Liste war lang und sagte ihr nichts. Identitäten. Menschen. Leute, die sie nicht kannte und deren Namen für sie keine Bedeutung hatten.
Auf Cape Cod hatte sie sich die ganze Zeit umgeblickt. Natürlich würden sie einander nicht begegnen. Zum einen lagen Harwichport und Orleans eine gute Viertelstunde Autofahrt voneinander entfernt. Zum anderen gab es kaum einen Grund, von Orleans nach Harwichport zu fahren, der Verkehr strömte in die andere Richtung. Orleans war groß. Oder zumindest größer. Hatte mehr Läden. Restaurants. Der gewaltige Nauset Beach am Atlantik ließ den Nantucket Sound aussehen wie ein Planschbecken. Sie wußte, daß sie ihm nicht begegnen würde. Trotzdem schaute sie sich immer wieder um.
Noch einmal ließ sie ihren Finger über die Liste wandern. Die Liste sagte ihr noch immer nichts. Der Abteilungsleiter, Alvhilds Chef im Jahre 1965, war seit fast dreißig Jahren tot. Strich durch seinen Namen, leider. Alvhilds nächste Kollegen hatten nichts zu sagen. Alvhild hatte längst festgestellt, ob sie sich an etwas erinnern konnten, ob sie etwas über Aksel Seiers auffällige Freilassung wußten. Also durchstreichen.
Inger Johanne fiel der Filzstift aus der Hand. Er verschwand in einer Falte des Bettbezugs. Rasch breitete sich im weißen Stoff ein schwarzer Fleck aus. Das Telefon klingelte.
Anonym, sagte das Display.
Inger Johanne kannte niemanden mit geheimer Telefonnummer.
Es mußte Yngvar
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