In kalter Absicht
angeboten, als sie sich gegen elf eine Decke holte. Er lehnte dankend ab, hatte dann aber doch eine leichte Wolldecke um die Schultern akzeptiert. Sie konnte sehen, daß er fror. Seine Oberschenkel zitterten rhythmisch, und ab und zu hauchte er seine Hände an.
»Eine faszinierende Geschichte«, sagte er und überzeugte sich zum vierten Mal davon, daß das Handy wirklich eingeschaltet war. »Ich habe ihnen diese Nummer gegeben. Damit sie nicht …«
Er nickte nach hinten. Kristiane schlief tief.
Inger Johanne hatte ihm von Aksel Seier erzählt. Es überraschte sie eigentlich, daß sie das erst jetzt tat. Innerhalb von nicht mal einer Woche waren Yngvar und sie einen ganzen Tag, einen langen Abend und eine durchwachte Nacht zusammengewesen. Mehrmals hatte sie mit dem Gedanken gespielt, diese Geschichte mit ihm zu teilen. Etwas hatte sie bisher zurückgehalten, vielleicht der ewige Widerwille dagegen, Beruf und Privates zu vermischen. Sie wußte nicht mehr, in welche Sparte Yngvar gehörte. Er trug noch immer ihr Hemd. Er hatte ihr voller Interesse zugehört. Seine kurzen, seltenen Fragen hatten Sinn gehabt. Waren klug gewesen. Sie hätte es früher tun sollen. Aus irgendeinem Grund hatte sie Asbjørn Revheim und Anders Mohaug ausgelassen. Und ihren Ausflug nach Lillestrøm hatte sie auch nicht erwähnt. Sie schien das alles erst in Ruhe durchdenken zu wollen.
»Glaubst du«, fragte sie nachdenklich, »daß die norwegischen Justizbehörden in gewissen Fällen vielleicht …«
Sie wagte fast nicht, dieses Wort zu benutzen.
»Korrupt sein könnten«, sagte er hilfreich. »Nein. Wenn du unter korrupt verstehst, daß sie gegen Bestechungsgeld bereit wären, einen Fall zu einem bestimmten Ende zu bringen, dann halte ich das für so gut wie ausgeschlossen.«
»Das ist ja beruhigend«, sagte sie trocken.
Auf einem kleinen Teakholztisch zwischen ihnen stand eine Thermoskanne voll Tee mit Honig. Der Korken summte nervtötend vor sich hin, und sie versuchte, ihn richtig festzudrehen.
»Aber es gibt viele Varianten menschlicher Unzulänglichkeit«, sagte Yngvar jetzt und schloß die Hände um seinen Becher, um sie zu wärmen. »Korruption ist hierzulande fast unvorstellbar. Aus vielen Gründen. Zum einen fehlt uns einfach die entsprechende Tradition. Das mag seltsam klingen, aber Korruption setzt tatsächlich eine Art nationale Tradition voraus. In vielen afrikanischen Ländern zum Beispiel …«
»Vorsicht, mein Lieber!«
Sie lachten beide ein wenig.
»Wir haben in den letzten Jahren auch in Europa Fälle von Korruption auf sehr hoher Ebene erlebt«, sagte Inger Johanne. »Belgien. Frankreich. So unvorstellbar ist das also nicht. Du brauchst nicht nach Afrika zu gehen.«
»Stimmt«, gab Yngvar zu. »Aber wir sind ein sehr kleines Land. Sehr überschaubar. Korruption ist hier nicht das Problem.«
»Sondern?«
»Unfähigkeit und Prestigedenken.«
»Meine Güte.«
Sie ließ von der Thermoskanne ab. Die jammerte noch immer, es war ein dünner Klagelaut. Yngvar drehte den Verschluß ganz auf und goß den restlichen Tee in seine Tasse. Dann legte er den Deckel vorsichtig auf den Tisch und fragte:
»Worauf willst du eigentlich hinaus?«
»Ich … Wäre es grundsätzlich denkbar, daß Aksel Seier damals verurteilt worden ist, obwohl jemand im Justizapparat wußte, daß er unschuldig war?«
»Er wurde von einer Jury verurteilt«, sagte Yngvar. »Eine Jury besteht aus zehn Mitgliedern. Ich kann mir nun sehr schwer vorstellen, daß zehn Menschen beschließen können, ein derartiges Unrecht zu dulden, ohne daß das jemals durchsickert. In all den Jahren seither, meine ich.«
»Ja. Aber die Beweise werden von den Anklagebehörden vorgelegt.«
»Das schon. Meinst du, daß …«
»Ich meine erst einmal gar nichts. Ich frage dich, ob du es für möglich hältst, daß Polizei und Staatsanwaltschaft 1956 Aksel Seier für ein Verbrechen hinter Gitter brachten, von dem sie wußten, daß er es nicht begangen hatte.«
»Weißt du, wer damals die Anklage vertreten hat?«
»Astor Kongsbakken.«
Yngvar ließ seinen Becher sinken und lachte.
»Den Zeitungsberichten zufolge hat er sich, gelinde gesagt, ziemlich engagiert«, sagte Inger Johanne jetzt.
»Das kann ich mir vorstellen. Ich bin zu jung …«
Er lächelte breit und blickte ihr ins Gesicht. Sie betrachtete einen Teefleck auf ihrer Decke und zog sie dichter um sich zusammen.
»… um ihn vor Gericht erlebt zu haben«, sagte Yngvar. »Aber er war legendär. Ein
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