In kalter Absicht
Johanne sie weckte. »Durst im Bauch.«
Inger Johanne hatte eigentlich nichts dagegen, zu Hause bleiben zu können. Sie streifte einen alten Trainingsanzug über und rief ihr Büro an. Dann wählte sie die Nummer ihrer Mutter.
»Kristiane ist krank, Mama. Wir können heute abend nicht kommen.«
»Wie schade. Wirklich jammerschade. Ich habe ganz vorzüglichen Gravedlachs auftreiben können, dein Vater kennt doch … Soll ich auf sie aufpassen?«
»Nein, das ist nicht nötig. Oder vielleicht doch …«
Inger Johanne konnte einen Tag zu Hause gut brauchen. Sie könnte vor dem Wochenende die Wohnung putzen. Sie könnte den einen Küchenstuhl reparieren, er war unter Yngvars Gewicht aus dem Leim gegangen. Kristiane war ein seltsames Kind. Sie schlief sich gesund, im wahrsten Sinne des Wortes. Bei ihrer letzten Grippe hatte sie vier Tage fast durchgeschlafen, bis sie dann eines Nachts um zwei Uhr aufgestanden war und erklärt hatte:
»Gesund. Rundbuntgesund.«
Inger Johanne könnte endlich die Haarkur ausprobieren, die sie von Lise bekommen hatte. Sie könnte in aller Ruhe in der Badewanne liegen. Aber sie mußte vor dem Wochenende noch zwei Dinge erledigen.
»Kannst du später kommen? Sagen wir … gegen zwei?«
»Natürlich kann ich kommen, meine Liebe. Kristiane ist doch so pflegeleicht, wenn sie krank ist. Ich bringe meine Stickerei mit und ein Video, das deine Schwester mir neulich mitgebracht hat, einen alten Film, sie meint, daß er mir sicher gefallen wird. Steel Magnolias mit Shirley MacLaine und …«
»Mama, hier liegen doch haufenweise Videos.«
»Das schon, aber du hast so einen … aparten Geschmack.«
Inger Johanne schloß die Augen.
»Ich habe überhaupt keinen aparten Geschmack. Ich habe Filme von …«
»Schon gut, meine Liebe. Du hast einen etwas ausgefallenen Geschmack. Das mußt du einfach zugeben. Warst du schon beim Friseur? Deine Schwester sieht so toll aus, sie war bei diesem neuen Friseur unten in der Prinsens gate, von dem überall die Rede ist, er heißt …«
Die Mutter kicherte.
»Er ist allerdings ein wenig … Das sind sie ja oft, diese Friseure. Aber Marie sieht einfach todschick aus.«
»Sicher. Du kommst also gegen zwei?«
»Um Punkt zwei. Soll ich für uns drei Mittagessen einkaufen?«
»Nein, danke. Ich habe eine Gemüsesuppe in der Tiefkühltruhe. Das ist das einzige, was ich Kristiane einflößen kann, wenn sie krank ist. Und für uns reicht es auch.«
»Schön. Also bis dann.«
»Bis dann.«
Das Badewasser war genau zwei Grad zu warm. Inger Johanne lehnte den Kopf an das Plastikkissen und sog in langen Zügen den Dampf in sich hinein. Zitrone und Kamille aus einer teuren Glasflasche, die Isak aus Frankreich mitgebracht hatte. Noch immer kaufte er ein Geschenk für sie, wenn er im Ausland war. Inger Johanne begriff nicht so recht, warum, aber es war schön. Er hatte einen guten Geschmack. Und viel Geld.
»Ich habe auch einen guten Geschmack«, murmelte sie.
Am Haken hingen drei abgenutzte Frotteehandtücher. Das eine zeigte ein großes Bild von Tiger aus »Pu der Bär«, die beiden anderen waren zu einer Art rosa Pastellton verwaschen.
»Neue Handtücher«, sagte sie zu sich. »Heute noch.«
Ihre Freundinnen beneideten sie um ihre Mutter. Line war hin und weg von ihr. Sie ist so lieb, sagten die anderen. Sie ist doch immer für dich da. Und sie hält sich auf dem laufenden. Liest und geht ins Kino und ins Theater, und wie sie sich kleidet!
Ihre Mutter war wirklich lieb. Zu lieb. Ihre Mutter war eine Heerführerin im Dienste des Guten, sie betreute Häftlinge und war Ehrenmitglied des Norwegischen Frauen-Sanitätsvereins, sie war geschickt und unfähig zur direkten Kommunikation. Vielleicht lag das daran, daß sie niemals berufstätig gewesen war. Ihr Leben hatte aus Mann und Kindern und Freiwilligkeit bestanden, aus einer endlosen Reihe von Ehrenämtern und Aufträgen, die ohne eine positive Einstellung allen und allem gegenüber nicht zu bewältigen gewesen wären. Ihre Mutter war die geborene Diplomatin. Sie war fast unfähig, einen Satz zu bilden, dessen Wortlaut sich mit dem deckte, was sie eigentlich sagen wollte. Dein Vater macht sich Gedanken deinetwegen bedeutete, ich komme um vor Angst. Marie sieht im Moment umwerfend gut aus teilte Inger Johanne mit, daß sie selber einem Müllhaufen ähnele. Wenn die Mutter einen Stapel Frauenzeitschriften mitbrachte, wußte Inger Johanne auch ohne hineinzusehen, daß es darin um neue Mode ging und um zwanzig
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