In kalter Absicht
welchem Profil?«
»Warte.«
Sie starrte den Ausdruck an. Von ihr aus gesehen stand der Text auf dem Kopf, die Schrift war so klein, daß sie sie so nicht entziffern konnte. Sie hob einen Finger, als brauche sie absolute Stille, um ihren Gedanken zu Ende führen zu können.
»Dieser Mann ist ein … Rächer«, sagte sie angespannt. »Er leidet an einer ernsthaften anti-sozialen Persönlichkeitsstörung oder ist ein Psychopath. Er macht das hier alles, weil er es für richtig hält. Oder für gerecht. Er glaubt, irgendwelche Ansprüche zu haben. Auf irgend etwas. Das er nie bekommen hat. Oder das ihm weggenommen worden ist. Etwas, das ihm gehört. Er nimmt es sich zurück … das, was ihm gehört.«
Ihr Finger erhob sich zwischen ihnen wie ein Ausrufezeichen. Yngvar verzog keine Miene.
»Könnte er … ist der Mörder vielleicht der Erzeuger dieser Kinder?«
Ihre Stimme zitterte; das hörte sie selber und räusperte sich. Yngvar war blaß geworden.
»Nein«, sagte er endlich. »Das ist er nicht.«
Langsam ließ Inger Johanne ihren Finger sinken. »Das habt ihr überprüft«, sagte sie tonlos. »Ob die Kinder die Abkömmlinge ihrer Väter sind.«
»Ja.«
»Wäre ja nett gewesen, das zu erfahren«, sagte sie. »Wo du doch meinst, ich sollte dir helfen.«
»Ich bin einfach noch nicht dazu gekommen. Wir wissen, daß Tønnes Selbu nicht Emilies leiblicher Vater ist. Er weiß es selber aber offenbar nicht. Die anderen Kinder …«
Er ließ sich langsam auf dem Sofa zurücksinken.
»Alles weist darauf hin, daß es mit der Vaterschaft seine Richtigkeit hat.«
Inger Johanne ließ den Ausdruck nicht aus den Augen. Der König von Amerika fiepte hinter Kristianes geschlossener Zimmertür. Inger Johanne blieb sitzen. Das Fiepen wurde lauter.
»Soll ich …«, begann Yngvar.
»Ich hatte gestern hier eine Art Frauenfest«, fiel sie ihm ins Wort. »Wir waren am Ende allesamt beschwipst.«
Jack heulte jetzt.
»Ich lasse ihn raus«, sagte Yngvar. »Bestimmt muß er pinkeln.«
»Er ist noch nicht stubenrein«, sagte sie matt. »Er will nur Gesellschaft. Jetzt wird Kristiane wach. Jetzt ist es passiert.«
Trotzdem blieb sie weiter sitzen. Yngvar ließ den Hund aus dem Kinderzimmer. Der strullte auf den Boden. Yngvar holte Wischlappen und Eimer. Das ganze Zimmer roch nach Ajax, als er dann ins Badezimmer ging und mit dem Hund auf dem Arm zurückkehrte.
»Ein Fest«, sagte er mit aufgesetzter Munterkeit. »Am Mittwoch!«
»Das ist eigentlich eine Art Lesegruppe. Nur haben wir selten Zeit zum Lesen. Auf jeden Fall lesen wir nicht dieselben Bücher. Aber wir machen das seit dem Gymnasium. Einmal im Monat. Und waren am Ende, wie gesagt, ein wenig …«
Sie errötete. Sie war froh darüber, daß sie am Vorabend nicht zuviel getrunken hatte. Yngvar gingen ihre Unternehmungen nichts an. Er breitete sich in ihrer Wohnung aus, saß mit ihrem Hund auf dem Schoß auf ihrem Sofa. Seine Hände waren noch naß von ihrem Wasser und ihrem Putzmittel.
»Später am Abend wollte eine von uns um jeden Preis wissen, mit wie vielen Männern die anderen …«
Yngvar war immer nur mit seiner Frau zusammengewesen. Inger Johanne hatte nicht geglaubt, jemals so etwas von einem Mann zu hören.
Sagst du die Wahrheit, dachte sie. Oder willst du auch damit Eindruck schinden? Damit, daß du anders wirkst?
»… geschlafen hatten«, vollendete sie ihren Satz.
»Jetzt kann ich nicht …«
»… so ganz folgen?«
Sie bereute das alles sofort.
»Ich erzähle das nicht einfach so«, beteuerte sie schnell. »Wir haben natürlich viel gejuxt und gelacht. Es ist so ein Gesellschaftsspiel, mit dem gute Freundinnen sich ab und zu amüsieren. Ungefähr wie Jungs, wenn sie die fünf besten Rockplatten aller Zeiten aufzählen. Die zehn besten Fußballstürmer. So ungefähr.«
Yngvar hatte einen breiten Schoß. Seine Oberschenkel waren kräftig, und dazwischen war Platz für den ganzen König von Amerika. Der Hund hatte das Maul geöffnet, die Augen halb geschlossen und war sehr zufrieden.
»Wir haben allesamt ein bißchen geschwindelt. Was ich meine, ist …«
»Na, jetzt bin ich wirklich gespannt.«
Seine Worte waren sarkastisch. Seine Stimme freundlich. Sie wußte nicht, was sie glauben sollte.
»Wir verschweigen etwas«, sagte sie. »Wir alle haben Dinge, zu denen wir nicht so ganz stehen mögen.«
Er hob den Blick von dem Hund und schaute ihr voll ins Gesicht.
»Na ja, nicht alle«, sagte sie und zeigte auf den Eßtisch, als könne
Weitere Kostenlose Bücher