In kalter Absicht
lärmend einem verirrten Fußball hinterher. Es war ein Sommergeräusch, das beide lächeln ließ, wenn sie sich auch nicht anlächelten. Inzwischen war es halb zehn. Inger Johanne spürte, wie der Gin ihr sofort zu Kopf stieg. Ein leichter und angenehmer Schwindel schon nach dem ersten Schluck. Sie entspannte sich. Dann sagte sie:
»Wenn wir mit dem Gedanken spielen, daß wir einen Exliebhaber suchen oder einen, der gern mit diesen Müttern zusammengewesen wäre, dann stimmt der Zettel ziemlich gut. Du hast bekommen, was du verdienst. Man kann eine Frau nicht schlimmer treffen, als wenn man ihr ein Kind wegnimmt.«
»Einen Mann auch nicht.«
Inger Johanne musterte ihn zerstreut. Dann begriff sie.
»Oh … Tut mir leid. Entschuldigung, Yngvar, ich hatte nicht daran gedacht …«
»Ist schon gut. Die meisten scheinen das zu vergessen. Vermutlich, weil das Unglück dermaßen … grotesk war. Ein Kollege von mir hat vor einem Jahr bei einem Autounfall einen Sohn verloren. Darüber reden alle mit ihm. Mit einem Autounfall können wir irgendwie umgehen. Von einer Leiter zu fallen und sich und die eigene Mutter umzubringen ist eher …«
Er lächelte verkniffen und trank einen Schluck.
»… wie aus einem Roman von John Irving. Deshalb schweigen alle. Was eigentlich in Ordnung ist. Du wolltest etwas sagen.«
Sie wollte nicht weitermachen. Etwas in seinem Blick zwang sie aber zu sagen:
»Angenommen, wir reden von einem scheinbar normalen Menschen. Sieht vielleicht gut aus. Ist nett. Kann vielleicht charmant sein und kommt leicht mit Frauen in Kontakt. Weil er sehr gut manipulieren kann, bleiben sie vielleicht einige Zeit bei ihm. Aber nicht lange. Er hat etwas Böses an sich, etwas Unreifes und Selbstsüchtiges, das zusammen mit einer Paranoia, die schnell zum Vorschein kommt, die Frauen in die Flucht treibt. Die Niederlagen häufen sich. Er glaubt nicht, daß es an ihm liegen könnte. Er macht doch alles richtig. Diese Frauen sind es, die ihn im Stich lassen. Sie sind schlau und berechnend. Auf sie ist kein Verlaß. Und dann passiert etwas.«
»Was zum Beispiel?«
Er leerte sein Glas. Inger Johanne wußte nicht, ob sie ihm mehr anbieten sollte. Deshalb sagte sie:
»Ich weiß es nicht. Noch eine Zurückweisung? Vielleicht. Vermutlich etwas Schwererwiegendes. Etwas, bei dem er einfach ausrastet. Dieser Mann, der in Tromsø gesehen worden ist, gibt es über den etwas Neues?«
»Nein. Niemand hat sich gemeldet. Das kann bedeuten, daß es sich um unseren Mann handelt. Es kann auch bedeuten, daß es ein ganz anderer war. Einer, der mit dem Fall nichts zu tun hat, der aber aus Gründen dort unterwegs war, die er der Polizei lieber nicht auf die Nase binden möchte. Es kann sich um etwas so Unschuldiges wie um den Besuch bei einer Geliebten handeln. Deshalb bringt uns das nicht weiter.«
»Emilie ruiniert das ganze Bild«, sagte sie. »Möchtest du noch einen?«
Er nahm das Glas in die Hand und musterte es ausgiebig. Die Eiswürfel waren geschmolzen. Plötzlich trank er und sagte:
»Danke, nein. Ja, Emilie ist ein Rätsel. Wo steckt sie? Da ihre Mutter seit fast einem Jahr tot ist, kann die Entführung ja wohl kaum ihr gegolten haben. Und das wirft deine Theorie über den Haufen.«
»Ja …«
Sie zögerte.
»Sie ist aber nicht zurückgebracht worden, so wie die anderen Kinder. Jedenfalls nicht zu ihrem Vater. Aber habt ihr …«
Ihre Blicke verschränkten sich ineinander.
»Der Friedhof«, sagte er leise, fast flüsternd. »Er kann sie ihrer Mutter zurückgebracht haben.«
»Ja. Nein!« Inger Johanne zog sich die Ärmel über die Hände. Sie fror und rief beinahe:
»Sie ist seit fast vier Wochen verschwunden! Das hätte jemand entdeckt. In der Zeit müssen doch viele Leute den Friedhof von Asker besucht haben.«
»Ich weiß nicht einmal, ob Grete Harborg dort liegt«, sagte er atemlos. »Verdammt! Warum habe ich eigentlich bisher nicht daran gedacht?«
Er sprang auf. Er nickte fragend zu Inger Johannes Arbeitszimmer hinüber.
»Ja, ruf an«, sagte sie. »Aber ist es nicht ein bißchen spät, um das festzustellen?«
»Viel zu spät«, sagte er und schloß die Tür hinter sich.
Sie hatten sich auf die Terrasse gesetzt. Auf seinen Wunsch hin. Mitternacht war vorbei. Die Nachbarn hatten endlich ihre Kinder ins Haus geholt. Von Osten kam ein vager Grillgeruch. Der Wind stand günstig, die Autos auf dem Store Ringvei waren nur als fernes Rauschen zu hören. Inger Johanne hatte ihm einen Schlafsack
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