Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In kalter Absicht

In kalter Absicht

Titel: In kalter Absicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Holt
Vom Netzwerk:
Seine Finger zitterten, als er eine davon hochhob. Der Tabak war so trocken, daß er aus dem Papier rieselte. Vorsichtig stopfte er die Tabakkrümel wieder hinein. Das dauerte. Er mußte die Öffnung nach oben halten. Als er sich dann Feuer gab, legte er den Kopf in den Nacken. Nach vier Kippen hatte er keinen Hunger mehr. Statt dessen verspürte er eine leichte Übelkeit. Das war besser. Er kroch unter den groben Tisch und schlief ein.

47
    Die Kleine schien sterben zu wollen. Er begriff nicht, warum. Sie bekam genug zu essen. Genug Wasser. Genug Luft. Er gab ihr alles, was sie zum Überleben brauchte. Trotzdem lag sie einfach nur da. Sie gab keine Antwort mehr, wenn er sie ansprach. Das ärgerte ihn. Es war eine Frechheit. Und da er ihren Gestank nicht mehr aushalten konnte, hatte er an einer seiner alten Unterhosen den Schlitz zugenäht. Er konnte schließlich keine Mädchenunterhosen kaufen, ohne aufzufallen. Im Dorf kannten ihn alle. Natürlich könnte er in die Stadt fahren, aber er wollte lieber sichergehen. Er war bisher immer sichergegangen, die ganze Zeit. Sie würden ihn niemals finden, und er wollte nicht alles dadurch kaputtmachen, daß irgendwer sich fragte, warum ein kinderloser Mann Mädchenunterwäsche kaufte. Die Leute waren einfach hysterisch. Es war von nichts anderem die Rede. Im Supermarkt, bei Bob an der Tankstelle. Bei der Arbeit konnte er Ohrenschützer aufsetzen und die anderen aussperren, aber in der Mittagspause mußte er sich ihr Gequengel anhören. Zweimal hatte er seine Brote hinten bei der Säge gegessen. Worauf der Chef erschienen war, um zu fragen, ob er verrückt geworden sei. Die Mittagspause sei für alle heilig. Sie habe in der Baracke verbracht zu werden. So sei es nun mal, und er hatte gelächelt und war hinterhergetrottet.
    Als er sie zwei Tage zuvor zum Waschen aus dem Bett kommandiert hatte, war sie ihm steif wie ein Roboter vorgekommen. Aber sie hatte gehorcht. War zum Waschbecken gewackelt. Hatte sich nackt ausgezogen. Hatte sich mit den Waschlappen gereinigt, die er mitgebracht hatte. Hatte die saubere Unterhose angezogen, eine ausgewaschene grüne, auf der vorn ein frecher Elefant saß. Er hatte gelacht. Die Hose war viel zu weit, und Emilie sah einfach lächerlich aus, als sie sich dann umdrehte; mager und bleich, die rechte Hand um den Rüssel und um eine Handvoll Unterhosenstoff geballt.
    Dann hatte er ihre Kleider gewaschen. Er hatte sie in die Maschine gesteckt und Weichspüler hineingegeben. Er hatte zwar keine Lust gehabt, alles auch noch zu bügeln, aber trotzdem hätte sie dankbarer sein können. Noch immer trug sie nur die Unterhose. Die Kleider lagen zusammengefaltet neben dem Bett.
    »He«, sagte er schroff von der Tür her. »Lebst du noch?«
    Keine Antwort.
    Diese kleine Drecksgöre wollte ihm nicht antworten.
    Sie erinnerte ihn an ein Mädchen, mit dem er auf die Grundschule gegangen war. Damals hatten sie ein Theaterstück aufführen sollen. Seine Mutter wollte kommen. Sie hatte ihm ein Kostüm genäht. Er sollte eine Graugans spielen und hatte nur zwei Sätze zu sagen. Das Kostüm war nicht besonders schön. Die Flügel waren aus Pappe, und einer war schon arg zerknickt. Die anderen Kinder lachten. Das hübsche Mädchen spielte einen Schwan. Ihre Federn umbrausten sie, kreideweiße Federn aus Seidenpapier. Sie stolperte über irgend etwas und fiel von der Bühne.
    Seine Mutter ließ sich nicht blicken. Er erfuhr nie, warum nicht. Als er nach Hause kam, saß sie in der Küche und las. Sie blickte nicht einmal auf, als er gute Nacht sagte. Die Großmutter gab ihm ein Brot und ein Glas Wasser. Am nächsten Tag zwang sie ihn dazu, den Schwan im Krankenhaus zu besuchen und um Entschuldigung zu bitten.
    »He«, sagte er noch einmal. »Jetzt antworte schon!«
    Unter der Decke war eine Bewegung zu ahnen, doch sie blieb stumm.
    »Nimm dich in acht«, sagte er verbissen und knallte die Eisentür zu.
    Es war stockdunkel.
    Emilie wußte, daß sie nicht blind war. Der Mann hatte das Licht ausgeschaltet.
    Ihr Papa suchte jetzt sicher nicht mehr. Vielleicht hatte es eine Beerdigung gegeben.
    Vielleicht war sie tot und begraben.
    »Mama«, sagte sie in Gedanken.

48
    Am Freitag morgen erwachte Kristiane mit Fieber. Das heißt, sie erwachte nicht. Als Inger Johanne um zehn nach acht aufstand, nachdem Jack sie geweckt hatte, schlief die Kleine noch immer. Mit offenem Mund und übelriechendem Atem; ihre Wangen waren rot, ihre Stirn heiß.
    »Weh«, murmelte sie, als Inger

Weitere Kostenlose Bücher