In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
war wie betäubt. Nahm weder die Hitze noch den Lärm noch den Verkehr oder die Straßengerüche wahr. Er hatte das Gefühl, eine Handbreit über dem Gehsteig zu schweben. Alice sprach gelegentlich mit ihm, aber er hörte nichts von dem, was sie sagte. Er hörte nur eine leise Stimme in seinem Kopf, die endlos wiederholte: Du hast dich getäuscht. Du hast völlig danebengelegen . Diese Stimme kannte er von früher, aber das machte es nicht leichter, denn er hatte seine gesamte Karriere darauf aufgebaut, sie seltener zu hören als andere Leute. Sie ärgerte ihn maßlos. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil er ein Profi war, der seine Arbeit richtig machen sollte.
»Reacher?«, sagte Alice gerade. »Sie hören überhaupt nicht zu, oder?«
»Was?«, fragte er.
»Ich habe Sie gefragt, ob wir essen gehen sollen.«
»Nein«, antwortete er. »Ich brauche eine Fahrgelegenheit.«
Sie blieb abrupt stehen. »Was haben Sie vor? Wollen Sie alles zum vierten Mal kontrollieren?«
»Nein, ich meine eine Fahrgelegenheit von hier weg. Ich möchte woandershin. Möglichst weit weg. In der Antarktis soll es um diese Jahreszeit sehr angenehm sein.«
»Auf dem Rückweg zu meinem Büro kommen wir am Busbahnhof vorbei.«
»Gut. Diesmal nehme ich einen Bus. Mit der Anhalterei ist jetzt Schluss. Man weiß nie, von wem man aufgelesen wird.«
Das Leichenschauhaus war ein niedriges Gewerbegebäude mit einem asphaltierten Parkplatz zur Straße hin. Es hätte ein
Bremsen- oder Reifendienst sein können. Seine Außenwände bestanden aus Profilstahlblechen, und in eine Seitenwand war ein großes Rolltor eingelassen. Daneben befand sich die Eingangstür, zu der zwei Stufen zwischen Geländern aus Stahlrohren hinaufführten. Drinnen war es empfindlich kalt. Hier lief eine gewerbliche Kühlanlage, die das Gebäude in einen Eiskeller verwandelte. In der linken Wand des Vorraums befand sich eine zweiflüglige Tür, die direkt in den Autopsieraum führte. Diese Verbindungstür stand offen, und Reacher konnte die Autopsietische sehen. Reichlich Edelstahl und weiße Fliesen und helles Neonlicht.
Alice legte den Schlangenledergürtel auf die Theke und suchte in ihrer Umhängetasche nach dem Ring. Dem Angestellten erklärte sie, beide Gegenstände gehörten zum Fall Texas versus Carmen Greer. Er verschwand und kam mit einer Schachtel Beweismaterial zurück.
»Nein, das ist persönliches Eigentum«, stellte sie richtig. »Kein Beweismaterial. Entschuldigen Sie.«
Der Kerl warf ihr einen Warum-haben-Sie-das-nichtgleich-gesagt -Blick zu und wandte sich ab.
»Moment«, sagte Reacher. »Lassen Sie mich mal sehen.«
Der Mann zögerte, dann stellte er die Schachtel hin. Sie besaß keinen Deckel und war eigentlich nur ein sieben bis acht Zentimeter tiefes Tablett aus Pappe. Irgendjemand hatte mit einem Filzstift Greer auf die Vorderseite geschrieben. Die Lorcin steckte in einem Klarsichtbeutel, der eine Asservatennummer trug. Zwei Patronenhülsen aus blankem Messing lagen in einem weiteren Beutel. Zwei winzige Geschosse Kaliber 22 hatten jedes einen eigenen Klarsichtbeutel. Sie waren grau und leicht verformt. Ein Beutel war mit Interkranial #1 bezeichnet, der andere mit Interkranial #2 . Ein Aufkleber trug das Aktenzeichen und eine Unterschrift.
»Ist der Pathologe da?«, fragte Reacher.
»Klar«, sagte der Mann. »Er ist immer da.«
»Ich muss ihn sprechen«, sagte Reacher. »Sofort.«
Er erwartete Einwände, aber der Mann zeigte nur auf die Verbindungstür.
»Dort drin«, sagte er.
Alice ging nicht mit. Als Reacher den Raum betrat, glaubte er, der Raum sei leer. Aber dann entdeckte er in der Rückwand eine Tür mit Glaseinsatz. Dahinter lag ein Büro, in dem ein Mann in grüner OP-Kleidung an einem Schreibtisch saß und Akten studierte. Reacher klopfte ans Glas. Der Mann sah auf. Formte mit den Lippen die Worte: Herein!
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.
»Nur zwei Kugeln in Sloop Greer?«, fragte Reacher.
»Wer sind Sie?«
»Ich bin mit der Anwältin der Ehefrau hier«, antwortete Reacher. »Sie ist draußen.«
»Die Ehefrau?«
»Nein, die Anwältin.«
»Gut«, sagte der Kerl. »Was ist mit den Kugeln?«
»Wie viele waren es?«
»Zwei«, sagte er. »Verdammt schwierig, sie rauszuholen.«
»Kann ich die Leiche sehen?«
»Wozu?«
»Ich mache mir Sorgen wegen eines möglichen Justizirrtums.«
Das war ein Argument, das bei Pathologen meistens zog. Sie rechneten damit, dass es zu einem Prozess kommen würde und sie als
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