In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
verstand sie. Und sie wusste bereits, dass sie eine neue Familie brauchte. Die Greers hatten ihr gesagt, dass ihr Daddy gestorben und ihre Mami fortgegangen war und nie mehr zurückkommen würde. Und sie hatten ihr erklärt, sie könnten sie nicht bei sich behalten. Was Ellie auch gar nicht wollte. Sie waren gemein. Sie hatten bereits ihr Pony und auch die anderen Pferde verkauft. Ein großer Lastwagen hatte sie morgens in aller Frühe abgeholt. Sie hatte nicht geweint. Sie wusste, dass alles irgendwie zusammenhing. Kein Daddy mehr, keine Mami, kein Pony, keine Pferde mehr. Alles war jetzt anders. Deshalb war sie mit den Fremden mitgegangen, was hätte sie auch anderes tun sollen.
Dann hatten die Fremden sie mit ihrer Mami telefonieren lassen. Ihre Mami hatte geweint und zum Schluss gesagt: Werde mit deiner neuen Familie glücklich. Aber das Dumme war, dass sie nicht recht wusste, ob diese Fremden ihre neue Familie waren oder sie nur zu ihrer neuen Familie bringen sollten. Und sie fürchtete sich davor, sie zu fragen. Also schwieg sie lieber. Ihr Handrücken war schon ganz wund vom Hineinbeißen.
»Das ist die Büchse der Pandora«, sagte Hack Walker. »Am besten macht man sie gar nicht erst auf. Sonst könnte alles verdammt schnell aus dem Ruder laufen.«
Sie saßen wieder in Walkers Büro. Dort war es mindestens dreißig Grad heißer als im Kühlraum des Leichenschauhauses.
»Sie verstehen, was ich meine?«, fragte Walker. »Dadurch würde alles nur noch schlimmer.«
»Glauben Sie?«, fragte Alice.
Walker nickte. »Es würde für zusätzliche Verwirrung sorgen. Nehmen wir mal an, Reacher hätte Recht, was eine großzügige Auslegung ist, weil er nur seine subjektive Meinung äußert. Im Prinzip stellt er nur Vermutungen an. Und die basieren worauf? Auf einem Eindruck, den sie ihm zuvor vermittelt hat – auf dem Eindruck, sie könne nicht schießen -, und wir wissen bereits, dass alle anderen Eindrücke, die sie ihm bewusst vermittelt hat, von Anfang bis Ende erlogen waren. Aber nehmen wir mal rein theoretisch an, er hätte Recht. Was würde das bedeuten?«
»Was?«
»Eine Verschwörung. Wir wissen bereits, dass sie versucht hat, Reacher für einen Auftragsmord zu gewinnen. Nun hätte sie jemand anders gefunden. Sie fordert ihn auf, ins Haus zu kommen, sagt ihm, wie und wann und wo ihre Pistole versteckt ist. Er kreuzt auf, holt sich die Waffe, verübt die Tat. Ist die Sache so abgelaufen, hat sie sich einer Verschwörung zum Zwecke eines Mordes aus Geldgier schuldig gemacht. Sie hat kaltblütig einen Killer engagiert. Läuft’s darauf hinaus, ist sie wieder auf dem Weg in die Todeszelle. Denn glauben Sie mir, das ist weit schlimmer als ein allein verübter Mord. Im Vergleich dazu sieht ein von ihr selbst begangener Mord fast harmlos aus. Man könnte ihn als eine Affekthandlung bezeichnen, stimmt’s? Belassen wir alles beim Alten – auch, dass sie sich schuldig bekennt -, ich bin gern bereit, nur lebenslänglich zu beantragen. Aber sobald wir von Verschwörung reden, sieht der Fall ganz anders, nämlich weit schlimmer aus. Und schon ist sie wieder in die Todeszelle unterwegs.«
Alice schwieg.
»Also, Sie verstehen, was ich meine?«, fragte Walker. »Das Endergebnis wäre nicht günstig. Ganz im Gegenteil! Es würde ihre Lage dramatisch verschlechtern. Außerdem hat sie die Tat schon gestanden. Was ich für glaubhaft halte. Träfe das
nicht zu, wäre ihr Geständnis eine vorsätzliche Lüge, mit der sie ihren Kopf retten will, weil sie weiß, dass eine Verschwörung noch schlechter für sie wäre. Und darauf müssten wir reagieren. Das könnten wir unmöglich ignorieren. Sonst stünden wir als Trottel da.«
Alice sagte nichts. Reacher zuckte mit den Schultern.
»Also lassen Sie die Finger davon«, meinte Walker. »Das ist mein Vorschlag. Wäre ihr damit geholfen, würde ich mich damit befassen. Aber das ist nicht der Fall. Deshalb sollten wir die Finger davon lassen. Um ihretwillen.«
»Und um Ihrer Wahl zum Richter willen«, fügte Reacher hinzu.
Walker nickte. »Ich versuche nicht, das vor Ihnen zu verbergen.«
»Sie geben sich damit zufrieden, die Sache nicht weiter zu verfolgen?«, fragte Alice. »Als Ankläger? Das könnte bedeuten, dass irgendjemand ungestraft davonkommt.«
Walker schüttelte den Kopf. »Wenn sie so abgelaufen ist, wie Reacher glaubt. Wenn, wenn, wenn. Ich muss leider sagen, dass ich diesen Ablauf für äußerst unwahrscheinlich halte. Glauben Sie mir, ich bin ein
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