In letzter Sekunde - Child, L: In letzter Sekunde - Echo Burning/ Reacher 05
Typ, der auf der Suche nach einem besseren Leben den Rio Grande durchschwamm. Die Vorfahren dieser Frau hatten seit Jahrhunderten ein besseres Leben genossen. Das war offensichtlich. Es lag in ihren Genen. Sie sah wie eine Aztekenprinzessin aus und trug ein schlichtes, blass gemustertes Baumwollkleid. Nicht viel dran, aber wohl teuer. Es war ärmellos und endete eine halbe Handbreit über ihren Knien. Ihre Arme und Beine schimmerten dunkel.
»Also, wohin sind Sie unterwegs?«, fragte sie.
Dann hielt sie inne, und ihr Lächeln verstärkte sich. »Nein, das habe ich Sie schon gefragt. Sie wissen anscheinend nicht recht, wohin Sie wollen.«
Sie sprach akzentfrei Amerikanisch, vielleicht mit mehr Westküsten- als Südstaatenanklängen. Da sie mit beiden Händen lenkte, konnte er die Ringe an ihren Fingern sehen. An einer Hand trug sie außer einem schmalen Ehering einen Platinring mit einem großen Solitär.
»Irgendwohin«, sagte Reacher. »Wo ich zuletzt lande, dort will ich hin.«
Sie lächelte wieder. »Sind Sie vor irgendetwas auf der Flucht? Habe ich einen gefährlichen Flüchtling aufgelesen?«
Ihr Lächeln zeigte, dass das keine ernst gemeinte Frage war, aber er dachte, dass sie sich das vielleicht doch hätte fragen sollen. Schließlich war das unter den gegebenen Umständen keine so abwegige Frage. Sie war ein Risiko eingegangen. Die Art Risiko, die eines Tages das Ende des Reisens per Anhalter bedeuten könnte.
»Ich bin auf Erkundungsreise«, erklärte er.
»Sie erkunden Texas? Es ist längst entdeckt.«
»Wie ein Tourist«, sagte er.
»Sie sehen aber nicht wie ein Tourist aus. Die Touristen, die zu uns kommen, tragen Freizeitanzüge aus Polyester und reisen mit dem Bus.«
Während sie das sagte, lächelte sie wieder. Sie war attraktiv, wenn sie lächelte, wirkte selbstsicher und selbstbewusst. Eine elegante Mexikanerin, die ein teures Kleid trug und es verstand, Konversation zu machen. Die einen Cadillac fuhr. Reacher war sich plötzlich seiner knappen Antworten bewusst, seiner ungekämmten Haare, seines Dreitagebarts, seines fleckigen Hemds und seiner verknitterten Khakihose – und der großen Beule auf der Stirn.
»Leben Sie hier in der Gegend?«, fragte er, weil sie von Touristen, die zu uns kommen , gesprochen hatte und er das Bedürfnis hatte, etwas zu sagen.
»Ich wohne südlich von Pecos«, antwortete sie. »Über dreihundert Meilen von hier. Dorthin fahre ich, wie ich Ihnen schon gesagt habe.«
»Nie dort gewesen«, bemerkte er.
Sie reagierte nicht darauf und hielt an einer Ampel. Fuhr dann über eine große Kreuzung weiter und blieb in der rechten Fahrspur. Er beobachtete das Spiel ihrer Beinmuskeln, als sie aufs Gaspedal trat. Sie kaute auf ihrer Unterlippe, und ihre Augen waren leicht zusammengekniffen. Sie schien ein wenig nervös zu sein, die Sache aber im Griff zu haben.
»Und wie fanden Sie Lubbock?«, fragte sie.
»Ich habe die Buddy-Holly-Statue gesehen.«
Er bemerkte ihren kurzen Blick zum Autoradio hin, als dächte sie: Dieser Kerl mag Musik, vielleicht sollte ich eine CD auflegen.
»Sie mögen Buddy Holly?«, fragte sie.
»Eigentlich nicht«, erwiderte Reacher. »Ist mir zu zahm.«
Sie nickte ihrem Lenkrad zu. »Das finde ich auch. Ritchie Valens war besser, finde ich. Er stammt auch aus Lubbock.«
Reacher nickte ebenfalls. »Ich habe ihn auf dem Walk of Fame gesehen.«
»Wie lange waren Sie in Lubbock?«
»Einen Tag.«
»Und jetzt ziehen Sie weiter.«
»Das ist der Plan.«
»Irgendwohin.«
»Das ist der Plan«, wiederholte er.
Sie passierten die Stadtgrenze, die durch ein kleines Metallschild an einem Pfosten auf dem Gehsteig bezeichnet war. Er lächelte in sich hinein. City Police hatte auf der Beifahrertür des Streifenwagens gestanden. Er sah sich um und beobachtete, wie die Gefahr hinter ihm verschwand.
Die beiden Männer saßen vorn in dem Crown Victoria. Der große Aschblonde fuhr, um den kleinen Schwarzhaarigen abzulösen. Die Frau hatte hinten Platz genommen. Sie verließen den Parkplatz des Motels und beschleunigten auf der I-20 nach Westen, in Richtung Fort Worth, von Dallas weg. Keiner sprach. Der Gedanke an die Weite von Texas deprimierte sie. Um sich auf ihren Einsatz vorzubereiten, hatte die Frau einen Reiseführer besorgt, der darauf hinwies, dass der Staat volle sieben Prozent der Landmasse der Vereinigten Staaten ausmacht und größer als die meisten europäischen Staaten ist. Das beeindruckte sie nicht. Die übliche
Weitere Kostenlose Bücher