Paladin der Seelen
1
I
sta beugte sich zwischen den Zinnen des Torhauses nach vorn, die bleichen Hände auf den rauen Stein gestützt, und beobachtete mit dumpfer Müdigkeit, wie unter ihr die letzten Trauergäste durchs Burgtor ritten. Die Hufe der Pferde scharrten über das alte Kopfsteinpflaster, und Abschiedsrufe hallten im Torbogen wider. Istas gewissenhafter Bruder, der Herzog von Baocia, reiste als Letzter ab, mitsamt seiner Familie und dem Gefolge, volle zwei Wochen nach den Trauerfeierlichkeiten und der Bestattung.
Dy Baocia wechselte noch einige abschließende Worte mit Ser dy Ferrej. Der Majordomus der Burg lief neben dem Pferd des Herzogs her, blickte mit ernster Miene zu ihm auf und lauschte dem endlosen Redefluss. Letzte Anweisungen, zweifellos. Der treue dy Ferrej. Zwanzig Jahre lang hatte er der verstorbenen Herzoginwitwe gedient – während der langen Zeit ihrer Hofhaltung in Valenda. Noch immer schimmerten die Schlüssel von Burg und Festung an dem Gürtel, den der Herzog um die füllige Taille trug. Die Schlüssel ihrer Mutter. Zunächst hatte Ista diese Schlüssel an sich genommen und aufbewahrt, um sie später ihrem älteren Bruder zu übergeben, zusammen mit den Papieren, Bestandslisten und te stamentarischen Verfügungen, die beim Tod einer Dame von Rang zurückblieben. Und dy Baocia hatte die Schlüssel nicht seiner Schwester zur ständigen Verwahrung zurückgegeben, sondern hatte sie dem guten alten, ehrbaren dy Ferrej ausgehändigt – Schlüssel, um jede Gefahr aus- und Ista einzuschließen, falls nötig.
Das ist bloß noch Gewohnheit. Ich bin nicht mehr verrückt.
Sie legte keinen großen Wert auf die Schlüssel ihrer Mutter, ebenso wenig auf das Leben, das damit verbunden war. Sie wusste selbst nicht recht, was sie wollte. Sie wusste nur, wovor sie Angst hatte: eingesperrt zu werden an einem dunklen, beengten Ort, von Menschen, die sie liebten. Ein Feind mochte in seiner Wachsamkeit nachlassen, seiner Verpflichtung müde werden und aufgeben; doch Liebe würde niemals wanken. Unruhig rieb Ista ihre Finger über den Stein.
Dy Baocias Schar ritt in langer Reihe den Hügel hinunter und durch die Stadt, und schon bald war sie zwischen den rot gedeckten und mit Menschen überfüllten Dächern verschwunden. Dy Ferrej wandte sich um. Müde schritt er zurück durchs Tor und verschwand im Innern der Burg.
Der Frühlingswind zupfte eine Strähne aus Istas fahlbraunem Haar und blies sie ihr übers Gesicht. Sie nahm die Strähne zwischen Daumen und Zeigefinger und steckte sie zurück unter den sorgsam geflochtenen Haarkranz, der so straff saß, dass es ihr an der Kopfhaut zerrte.
In den letzten beiden Wochen war es wärmer geworden, doch der Wetterumschwung kam zu spät für die alte Frau, die von Verletzung und Krankheit ans Bett gefesselt gewesen war. Wäre Istas Mutter noch nicht so alt gewesen, wären die Knochenbrüche vielleicht schneller verheilt, und vielleicht hätte sich die Lungenentzündung dann nicht so tief in ihrer Brust festgesetzt. Wäre sie nicht so gebrechlich gewesen, hätte sie sich bei dem Sturz vom Pferd vielleicht gar nichts gebrochen. Und wäre sie nicht so starrsinnig gewesen, wäre sie in ihrem Alter gar nicht erst aufs Pferd gestiegen … Ista sah, dass sie sich die Finger blutig geschürft hatte. Rasch verbarg sie die Hand unterm Rock.
Während der Trauerfeier hatten die Götter Hinweise gegeben, dass die Seele der alten Dame von der Sommermutter aufgenommen worden war, wie es dem schicklichen Lauf der Dinge entsprach, und wie man es nicht anders erwartet hatte. Die alte Herzogin setzte ihre Vorstellungen von Sitte und Anstand sogar den Göttern gegenüber durch. Ista stellte sich vor, wie ihre Mutter den Himmel auf Vordermann brachte, und ein trauriges Lächeln legte sich auf ihre Züge.
Nun bin ich allein.
Ista grübelte über die Einsamkeit nach, und dar über, was sie alles auf dem Weg hierhin verloren hat te. Nacheinander waren ihr Ehemann, ihr Vater, ihr Sohn und nun ihre Mutter vor ihr in den Tod ge gangen. Und Iselle, ihre Tochter, wurde von der Kö nigswürde von Chalion in Anspruch genommen.
Ista hatte alle ihre Pflichten erfüllt: Sie war die Tochter ihrer Eltern gewesen, die Ehefrau des erhabenen, unglücklichen Ias, die Mutter ihrer Kinder, und zuletzt die Hüterin ihrer Mutter.
Jetzt bin ich nichts mehr davon.
Wer aber bin ich, wenn die Grenzen meines Lebens nicht mehr fest abgesteckt sind? Wenn all diese Mauern zu Staub zerfallen sind?
Nun, sie
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