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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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sehen kann.
    Meine Mutter sagte ihr, sie solle selbst entscheiden, ob sie vor Weihnachten noch zur Schule gehen wollte - es war nur noch eine Woche -, und sie entschied sich dafür.
    Am Montag, beim Morgenappell, starrten sie alle an, als sie vorn im Klassenzimmer auftauchte.
    »Der Direktor würde dich gern sehen, mein Kind«, vertraute Mrs. Dewitt ihr flüsternd an.
    Meine Schwester schaute Mrs. Dewitt nicht an, als sie sprach. Sie war damit beschäftigt, die Kunst, mit jemandem zu reden und dabei durch ihn hindurchzugucken, zu vervollkommnen. Das war der erste Hinweis für mich, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Mrs. Dewitt war Englischlehrerin, aber wichtiger noch, sie war mit Mr. Dewitt verheiratet, der die Jungen im Fußball trainierte und Lindsey ermutigt hatte, sich in seiner Mannschaft zu bewerben. Meine Schwester mochte die Dewitts, aber an diesem Vormittag begann sie, nur noch den Menschen in die Augen zu schauen, gegen die sie kämpfen konnte.
    Während sie ihre Sachen zusammensuchte, hörte sie überall Getuschel. Sie war sich sicher, dass Danny Clarke, kurz bevor sie den Raum verließ, Sylvia Henley etwas zugewispert hatte. Weiter hinten im Klassenzimmer hatten einige Schüler etwas fallen lassen. Das taten sie, so glaubte sie, damit sie, wenn sie es aufhoben und wieder an ihren Platz zurückkehrten, zu ihren Tischnachbarn ein, zwei Worte über die Schwester des toten Mädchens sagen konnten.
    Lindsey ging durch die Flure und zwischen den Reihen der Spinde hindurch - jedem ausweichend, der ihr nahe kam. Ich wünschte, ich könnte neben ihr gehen, den Direktor nachäffen und die Art, wie er eine Zusammenkunft in der Aula immer einleitete: »Euer Direktor ist euer Kumpel mit den Direktiven!«, würde ich ihr ins Ohr winseln und sie zum Losprusten bringen.
    Zwar war sie mit leeren Fluren gesegnet, doch als sie das Hauptbüro erreichte, wurde sie mit den rührseligen Blicken trostbereiter Sekretärinnen gestraft. Egal. Sie hatte sich zu Hause in ihrem Zimmer darauf eingerichtet. Sie war bis an die Zähne gegen jegliche Mitleidsattacke gerüstet.
    »Lindsey«, sagte Direktor Caden, »ich habe heute Morgen einen Anruf von der Polzei erhalten. Es tut mir Leid, von deinem Verlust zu hören.«
    Sie schaute ihn offen an. Es war nicht so sehr ein Blick als vielmehr ein Laserstrahl. »Was für ein Verlust denn?«
    Mr. Caden war der Meinung, er müsse heikle Themen bei Kindern direkt ansprechen. Er kam hinter seinem Schreibtisch hervor und führte Lindsey zu dem Sitzmöbel, das von den Schülern allgemein als Das Sofa bezeichnet wurde. Irgendwann sollte er Das Sofa durch zwei Sessel ersetzen, als die Politik sich des Schulbezirks bemächtigte und ihm mitteilte: »
Es ist nicht gut, hier ein Sofa stehen zu haben - Sessel sind besser. Sofas vermitteln die falsche Botschaft.«
    Mr. Caden setzte sich auf Das Sofa und meine Schwester ebenfalls. Ich stelle mir gern vor, dass sie sich in diesem Moment, egal wie sehr außer Fassung, ein bisschen darüber freute, auf dem legendären Sofa zu sitzen. Ich stelle mir gern vor, dass ich ihr nicht alles genommen habe.
    »Wir sind dazu da, auf jede erdenkliche Weise zu helfen«, sagte Mr. Caden. Er tat sein Bestes.
    »Mir geht es gut«, sagte sie.
    »Möchtest du darüber reden?«
    »Worüber?«, fragte Lindsey. Sie war, was mein Vater »schnippisch« nannte, wie in »Susie, sprich nicht in diesem schnippischen Ton mit mir.«
    »Deinen Verlust«, sagte er. Er beugte sich vor, um das Knie meiner Schwester zu berühren. Seine Hand war wie ein Brandmal, das sich in sie einbrannte.
    »Mir war gar nicht bewusst, dass ich etwas verloren habe«, sagte sie und machte sich mit übermenschlicher Anstrengung daran, sich übers Hemd zu fahren und ihre Taschen zu überprüfen.
    Mr. Caden wusste nicht, was er sagen sollte. Im letzten Jahr war Vicki Kurtz in seinen Armen zusammengebrochen. Es war schwierig gewesen, ja, doch nun, im Rückblick, erschienen ihm Vicki Kurtz und ihre tote Mutter als eine kunstvoll gemeisterte Krise. Er hatte Vicki Kurtz zur Couch geführt - ach nein, Vicki war selbst losmarschiert und hatte sich auf sie gesetzt -; er hatte gesagt: »Dein Verlust tut mir sehr Leid«, und Vicki Kurtz war geplatzt wie ein zu stark aufgeblasener Ballon. Er hielt sie in den Armen, während sie schluchzte und schluchzte, und er brachte noch am selben Abend seinen Anzug in die Reinigung.
    Aber Lindsey Salmon war ein ganz anderes Kaliber. Sie war begabt, eine von zwanzig

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