In meinem Himmel
einen befördert, und man schwingt sich daran empor in der Hoffnung, an einem ganz anderen Ort zu landen.
Wie ein Anruf aus der Gefängniszelle fegte ich an Ruth Connors vorbei - falsche Nummer, zufällig gewählt. Ich sah sie da neben Mr. Bottes rotem, verrostetem Fiat stehen. Als ich an ihr vorüberstrich, schnellte meine Hand vor, um sie zu berühren, das letzte Gesicht zu berühren, die letzte Verbindung mit der Erde in diesem keineswegs durchschnittlichen jungen Mädchen zu erfühlen.
Am Morgen des siebten Dezember beklagte sich Ruth bei ihrer Mutter, sie habe einen Traum gehabt, der ihr zu real vorkäme, um ein Traum zu sein. Als ihre Mutter sie fragte, was sie meine, sagte Ruth: »Ich überquerte gerade den Lehrerparkplatz, da sah ich plötzlich vom Fußballplatz her ein Gespenst auf mich zugerannt kommen.«
Mrs. Connors rührte die fest werdende Hafergrütze in ihrem Topf um. Sie beobachtete, wie ihre Tochter mit den langen, dünnen Fingern ihrer Hände gestikulierte - Hände, die sie von ihrem Vater geerbt hatte.
»Es war weiblich, das konnte ich spüren«, sagte Ruth. »Es flog aus dem Feld hoch. Seine Augen waren hohl. Es hatte einen dünnen, weißen Schleier über dem Körper, so leicht wie Gaze. Ich konnte dadurch sein Gesicht sehen, die Züge schienen hindurch, die Nase, die Augen, das Gesicht, die Haare.«
Ihre Mutter nahm die Hafergrütze vom Herd und stellte die Flamme kleiner. »Ruth«, sagte sie, »du lässt deine Fantasie mit dir durchgehen.«
Ruth verstand den Wink, sie solle den Mund halten. Sie erwähnte den Traum, der kein Traum gewesen war, nicht wieder, auch nicht zehn Tage später, als die Geschichte meines Todes durch die Schulflure zu wandern begann und dabei weitere Ausschmückungen erfuhr, wie alle guten Horrorgeschichten. Sie waren schwer in Bedrängnis, meine Altersgenossen, den Schrecken noch entsetzlicher zu machen, als er schon war. Allerdings fehlten die Details - das Wie und Wann und Wer wurde zu leeren Schalen, die sie mit ihren Mutmaßungen füllen mussten. Teufelsanbetung. Mitternacht. Ray Singh.
So sehr ich mich auch bemühte, ich schaffte es nicht, Ruth deutlich genug auf das hinzuweisen, was niemand gefunden hatte: mein silbernes Armband mit den Anhängern. Ich dachte, es würde ihr helfen. Es lag offen da und wartete auf eine Hand, die sich nach ihm ausstreckte, eine Hand, die es erkennen und denken würde:
Fingerzeig.
Es befand sich aber nicht mehr im Maisfeld.
Ruth fing an, Gedichte zu schreiben. Wenn ihre Mutter oder ihre zugänglicheren Lehrer nichts von der dunkleren Wirklichkeit hören wollten, die sie erlebt hatte, so würde sie diese Wirklichkeit eben mit Poesie bemänteln.
Wie ich mir wünschte, Ruth hätte zu meinen Angehörigen gehen und mit ihnen reden können! Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte bis auf meine Schwester keiner von ihnen auch nur ihren Namen gekannt. Ruth war das Mädchen, das beim Sport als Vorletzte in die Mannschaft gewählt wurde. Sie war das Mädchen, das sich dort, wo sie stand, duckte, wenn ein Volleyball in ihre Richtung gesegelt kam, sodass der Ball neben ihr auf den Boden der Turnhalle prallte und die anderen aus ihrer Mannschaft und der Sportlehrer sich sehr anstrengen mussten, um nicht aufzustöhnen.
Während meine Mutter auf dem steiflehnigen Stuhl in unserem Flur saß und zuschaute, wie mein Vater bei seinen diversen Erledigungen, für die er sich zuständig fühlte, hin- und herrannte - er war sich mittlerweile der Schritte und des jeweiligen Aufenthaltsortes seines kleinen Sohnes, seiner Frau und seiner verbleibenden Tochter im Übermaß bewusst -, bemächtigte Ruth sich unseres zufälligen Zusammentreffens auf dem Schulparkplatz und tauchte unter.
Sie blätterte alte Jahrbücher durch und entdeckte meine Klassenfotos sowie Fotos von anderen Aktivitäten wie der Chemie-AG und schnitt sie mit der schwanenförmigen Stickschere ihrer Mutter aus. Obwohl ihre Besessenheit zunahm, war ich nach wie vor auf der Hut vor ihr, bis zu jener letzten Woche vor Weihnachten, als sie auf dem Flur unserer Schule etwas sah.
Es waren meine Freundin Clarissa und Brian Nelson. Ich hatte Brian immer »Vogelscheuche« genannt, denn wenn er auch unglaubliche Schultern hatte, nach denen alle Mädchen schmachteten, erinnerte mich sein Gesicht an einen mit Stroh ausgestopften Jutesack. Er trug einen Hippie-Schlapphut aus Leder und rauchte im Raucherzimmer der Schüler selbst gedrehte Zigaretten. Meiner Mutter zufolge hätte Clarissas Hang zu
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