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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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an ihr Regal und wählte die zwei schwersten Bücher aus - ihr Lexikon und einen Weltalmanach. Sie machte Bizeps-Übungen, bis ihr die Arme wehtaten. Sie konzentrierte sich nur auf ihre Atmung. Auf das Ein. Das Aus.
    Ich saß im Pavillon auf dem größten Platz in meinem Himmel (unsere Nachbarn, die O'Dwyers, hatten einen Pavillon gehabt; ich hatte sie immer darum beneidet) und sah zu, wie meine Schwester wütete.
    Stunden bevor ich starb, hängte meine Mutter ein Bild an den Kühlschrank, das Buckley gemalt hatte. Auf der Zeichnung trennte ein dicker blauer Strich Luft und Erdboden voneinander. In den Tagen, die folgten, beobachtete ich, wie meine Familie vor dem Bild hin- und herging, und ich gelangte zu der Überzeugung, dass jener dicke blaue Strich ein realer Ort war - ein Dazwischen, wo der Horizont des Himmels auf den der Erde traf. Ich wollte hineinspazieren in das Kornblumenblau des Buntstifts - das Königsblau, das Türkis, das Firmament.
    Oft stellte ich fest, dass ich mir ganz simple Dinge wünschte, und ich bekam sie. Reichtümer in pelziger Verpackung. Hunde.
    Jeden Tag rannten in meinem Himmel winzige Hunde und große Hunde, Hunde aller Rassen, durch den Park vor meinem Zimmer. Wenn ich die Tür öffnete, sah ich sie, dick und fröhlich, dünn und behaart, auch mager und haarlos. Pitbulls rollten sich auf den Rücken, die Zitzen der Weibchen gebläht und dunkel, ihre Jungen auffordernd, zu kommen und zu saugen, glücklich in der Sonne. Bassets stolperten über ihre Ohren, wenn sie gemächlich vorantrotteten, um die Hinterteile von Dackeln, die Fesseln von Windhunden und die Köpfe von Pekinesen anzustupsen. Und wenn Holly ihr Tenorsaxofon zur Hand nahm und sich vor die Tür setzte, die in den Park führte, und den Blues spielte, kamen alle Hunde angelaufen, um sie als Chor zu begleiten. Jaulend saßen sie auf ihren Hinterbacken. Dann öffneten sich weitere Türen, und Frauen traten aus Wohnungen, in denen sie allein oder mit anderen lebten. Auch ich trat vor die Tür, Holly stimmte eine endlose Zugabe an, die Sonne ging unter, und wir tanzten mit den Hunden - alle gemeinsam. Wir jagten sie, sie jagten uns. Wir liefen hintereinander im Kreis. Wir trugen getupfte Kleider, geblümte Kleider, gestreifte Kleider, einfarbige. Wenn der Mond hoch stand, hörte die Musik auf. Der Tanz war zu Ende. Wir erstarrten.
    Dann holte Mrs. Bethel Utemeyer, die älteste Bewohnerin meines Himmels, ihre Geige hervor. Holly bearbeitete leise ihr Horn. Sie spielten ein Duett. Eine Frau, alt und schweigsam, eine andere, noch ein Mädchen. Im Hin und Her spendeten sie einen merkwürdigen, gespaltenen Trost.
    Alle Tänzerinnen gingen langsam nach drinnen. Das Stück hallte wider, bis Holly ein letztes Mal die Melodie weitergab und Mrs. Utemeyer, still, aufrecht, historisch, mit einer Gigue schloss.
    Das Haus schlief inzwischen; das war meine Abendandacht.

3
    Das Komische an der Erde war, was wir sahen, wenn wir hinunterguckten. Das erste Bild, das sich unseren Augen bot, war vorhersagbar, das bekannte Wie-Ameisen-vom-Wolkenkratzer-aus-Phänomen, doch außerdem waren da die Seelen, die überall auf der Welt ihre Körper verließen.
    Oft betrachteten Holly und ich forschend die Erde und stießen ein, zwei Sekunden lang, im prosaischsten Moment nach dem Unerwarteten Ausschau haltend, auf die eine oder andere Szene. Eine Seele lief an einem Lebewesen vorbei, berührte es sacht an Schulter oder Wange und setzte ihren Weg in den Himmel fort. Die Toten werden von den Lebenden zwar nie richtig gesehen, aber viele Menschen scheinen deutlich zu spüren, dass sich in ihrer Umgebung etwas verändert hat. Sie sprechen von einem kalten Lufthauch. Die Partner von Verstorbenen wachen aus Träumen auf und sehen eine Gestalt an ihrem Bettende stehen oder - wie ein Phantom - einen städtischen Bus besteigen.
    Auf meinem Weg fort von der Erde berührte ich ein Mädchen namens Ruth. Sie ging in dieselbe Schule wie ich, doch wir waren einander nie nahe gewesen. Sie stand mir in jener Nacht, als meine Seele kreischend die Erde verließ, im Wege. Ich musste sie einfach streifen. Sobald ich vom Leben befreit war, das ich mit solcher Brutalität verloren hatte, hatte ich keine Zeit zum Nachdenken. Bei Gewalttaten ist es das Entfliehen, auf das man sich konzentriert. Wenn man beginnt, über den Rand zu gleiten und das Leben sich aus einem entfernt wie ein Boot, das unweigerlich von der Küste forttreibt, hält man sich am Tod fest wie an einem Seil, das

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