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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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auf Erden geblieben wäre, diesen Ort hätte verlassen und mir einen anderen aussuchen können, dass ich hätte hingehen können, wo es mir gefiel. Und da fragte ich mich, ob es wohl im Himmel ebenso war wie auf der Erde. War das, was mir gefehlt hatte, eine Wanderlust, die vom Loslassen herrührte?
    Wir fuhren auf den schmalen Streifen gerodeter Erde, der sich seitlich an Hals Werkstatt entlangzog. Ray bremste und hielt an.
    »Wieso hier?«, fragte er.
    »Denk dran«, sagte ich, »wir sind auf Erkundungsfahrt.«
    Ich führte ihn zur Rückseite der Werkstatt und langte über den Türrahmen, bis ich den dort versteckten Schlüssel ertastete.
    »Woher hast du das gewusst?«
    »Ich habe schon Hunderte von Leuten ihre Schlüssel verstecken sehen«, sagte ich. »Um das zu erraten, muss man kein Genie sein.«
    Drinnen war es so, wie ich es in Erinnerung hatte, der Geruch nach Motorradöl schwer in der Luft.
    »Ich glaube, ich möchte duschen«, sagte ich. »Warum machst du es dir nicht gemütlich?«
    Ich ging am Bett vorbei und knipste mit der Kordel das Licht an - all die winzigen weißen Lämpchen über Hals Bett glitzerten, die einzige Beleuchtung bis auf das trübe Licht, das durch das kleine Hinterfenster fiel.
    »Wohin willst du?«, fragte Ray. »Woher kennst du das hier?« Seine Stimme hatte einen Unterton von Panik, den sie einen Augenblick zuvor noch nicht gehabt hatte.
    »Lass mir bloß ein bisschen Zeit, Ray«, sagte ich. »Dann erkläre ich es dir.«
    Ich ging in das kleine Badezimmer, ließ die Tür aber einen Spaltbreit offen. Während ich Ruths Kleider auszog und darauf wartete, dass sich das Warmwasser erhitzte, hoffte ich, dass Ruth mich sehen konnte, ihren Körper sah, wie ich ihn sah, seine vollkommene, lebendige Schönheit.
    Es war feucht und muffig im Bad, und die Wanne war fleckig nach all den Jahren, in denen Wasser in ihren Abfluss gelaufen war. Ich trat in die alte Wanne mit den Klauenfüßen und stellte mich unter das Wasser. So heiß ich es auch einstellte, mir war immer noch kalt. Ich rief Rays Namen. Ich bat ihn hereinzukommen.
    »Ich kann dich durch den Duschvorhang sehen«, sagte er, den Blick abwendend.
    »Macht nichts«, sagte ich. »Das finde ich gut. Zieh dich aus und komm zu mir.«
    »Susie«, sagte er, »du weißt, dass ich nicht so bin.«
    Mein Herz blieb stehen. »Was hast du gesagt?«, fragte ich. Durch den weißen, durchscheinenden Futterstoff, der Hal als Vorhang diente, starrte ich Ray an - er war eine dunkle Gestalt mit hundert kleinen Nadelstichen aus Licht, die ihn umgaben.
    »Ich sagte, ich bin nicht so.«
    »Du hast mich Susie genannt.«
    Es herrschte Schweigen, und dann, einen Augenblick später, zog er den Vorhang zurück, darauf bedacht, nur mein Gesicht anzuschauen.
    »Susie?«
    »Komm zu mir«, sagte ich, und Tränen stiegen mir in die Augen. »Bitte komm zu mir.«
    Ich schloss die Augen und wartete. Ich steckte meinen Kopf unter die Dusche und spürte, wie das heiße Wasser auf meinen Wangen und in meinem Nacken, auf meinen Brüsten und meinem Bauch und meinem Unterleib prickelte. Dann hörte ich ihn herumfummeln, hörte, wie seine Gürtelschnalle auf den kalten Zementboden traf und Kleingeld aus seinen Hosentaschen fiel.
    Ich hatte dasselbe Gefühl von Vorfreude, das ich manchmal als Kind gehabt hatte, wenn ich auf dem Rücksitz lag und die Augen schloss, während meine Eltern fuhren, sicher, dass wir zu Hause sein würden, wenn das Auto hielt, dass sie mich hochheben und hineintragen würden. Es war eine Vorfreude, die dem Vertrauen entsprang.
    Ray zog den Vorhang zurück. Ich wandte mich ihm zu und öffnete die Augen. An der Innenseite meiner Oberschenkel verspürte ich ein wunderbares Ziehen.
    »Alles in Ordnung«, sagte ich.
    Langsam trat er in die Wanne. Zuerst berührte er mich nicht, doch dann, zögernd, zeichnete er eine kleine Narbe an meiner Seite nach. Wir schauten gemeinsam zu, wie sich sein Finger über das Band der Wunde bewegte.
    »Ruths Unfall beim Volleyball, 1975«, sagte ich. Ich erschauerte wieder.
    »Du bist nicht Ruth«, sagte er, das Gesicht voller Staunen.
    Ich ergriff die Hand, die das Ende des Schnittes erreicht hatte, und legte sie unter meine linke Brust.
    »Ich beobachte euch beide seit Jahren«, sagte ich. »Ich möchte, dass du mit mir schläfst.«
    Seine Lippen teilten sich, um zu sprechen, aber was ihm jetzt auf der Zunge lag, war zu seltsam, um es laut auszusprechen. Er strich mit dem Daumen über meine Brustwarze, und ich zog seinen

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