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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Auto herunterregnen würde.
    »Sie erweitern die Schule.«
    »Ich fand gleich, dass das Viertel wohlhabender wirkt«, sagte Mr. Harvey nachdenklich.
    »Vielleicht sollten Sie jetzt weiterfahren«, sagte der Beamte. Er war peinlich berührt von Mr. Harvey in seinem zusammengeflickten Auto, doch ich sah, dass er sich die Nummer aufschrieb.
    »Ich wollte niemanden erschrecken.«
    Mr. Harvey war ein Profi, aber das kümmerte mich in dem Moment nicht. Mit jedem Straßenabschnitt, den er zurücklegte, konzentrierte ich mich auf Lindsey, die drinnen ihre Lehrbücher las, auf die Fakten, die von den Seiten hoch in ihr Gehirn sprangen, darauf, wie intelligent sie war und wie intakt. Auf dem College hatte sie beschlossen, Therapeutin zu werden. Und ich dachte an die Mischung in der Luft, die unser Vorgarten war, Tageslicht, eine überempfindliche Mutter und ein Polizist - es war eine Verkettung glücklicher Umstände, die meine Schwester bisher beschützt hatte. Jeder Tag ein Fragezeichen.
    Ruth erzählte Ray nicht, was passiert war. Sie gelobte sich, es erst in ihr Tagebuch zu schreiben. Als sie auf dem Rückweg zum Auto die Straße überquerten, sah Ray etwas Violettes in dem Gebüsch auf halber Höhe eines hohen Erdwalls, den Bauarbeiter dort abgeladen hatten.
    »Das ist Immergrün«, sagte er zu Ruth. »Ich schneide ein bisschen davon für meine Mutter ab.«
    »Klar, lass dir Zeit«, sagte Ruth.
    Ray tauchte in das Unterholz neben der Fahrerseite ab und kletterte hinauf zu dem Immergrün, während Ruth am Wagen stand. Ray dachte nicht mehr an mich. Er dachte an das Lächeln seiner Mutter. Die sicherste Methode, ihr eins zu entlocken, war die, wild wachsende Blumen zu finden, sie ihr mitzubringen und zuzuschauen, wie sie sie presste, wobei sie zunächst ihre Blütenblätter flach auf das Schwarz-Weiß von Wörterbüchern oder Nachschlagewerken legte. Ray stieg auf den Gipfel des Walls und verschwand auf der anderen Seite in der Hoffnung, noch mehr Blumen zu finden.
    Erst da spürte ich ein Kribbeln entlang der Wirbelsäule, als ich seinen Körper so plötzlich auf der anderen Seite verschwinden sah. Ich hörte Holiday, dem die Angst tief und leise in der Kehle saß, und mir wurde klar, dass es nicht Lindsey gewesen sein konnte, wegen der er gewinselt hatte. Mr. Harvey erklomm die Spitze des Eels Rod Pike und erblickte das Schlundloch und die orangeroten Leitkegel, die zu seinem Auto passten. Dort hatte er eine Leiche entsorgt. Er erinnerte sich an den Bernsteinanhänger seiner Mutter und daran, dass er noch warm gewesen war, als sie ihn ihm reichte.
    Ruth sah die in den Wagen gestopften Frauen in blutroten Gewändern. Sie begann, auf sie zuzugehen. Auf derselben Straße, an der ich begraben worden war, fuhr Mr. Harvey an Ruth vorbei. Alles, was sie sehen konnte, waren die Frauen. Dann: Blackout.
    Das war der Augenblick, in dem ich zur Erde fiel.

22
    Dass Ruth auf der Fahrbahn zusammenbrach, bekam ich mit. Dass Mr. Harvey unbeachtet, ungeliebt, ungebeten entschwirrte - das entging mir.
    Hilflos kippelte ich, mein Gleichgewicht war weg. Ich stürzte durch den offenen Eingang des Pavillons, über den Rasen und die entlegenste Grenze des Himmels, wo ich all die Jahre gelebt hatte.
    Ich hörte Ray in der Luft über mir schreien, seine Stimme ein Klangbogen. »Ruth, ist alles in Ordnung?« Und dann griff er nach ihr und packte sie.
    »Ruth, Ruth«, rief er. »Was ist passiert?«
    Und ich war in Ruths Augen, und ich schaute hoch. Ich konnte die Wölbung ihres Rückens auf dem Pflaster spüren und Kratzer unter ihren Kleidern, wo die scharfen Ränder von Kieselsteinen das Fleisch aufgerissen hatten. Ich nahm mit allen Sinnen wahr - die Wärme der Sonne, den Geruch des Asphalts -, doch ich konnte Ruth nicht sehen.
    Ich hörte Ruths Lungen blubbern, fühlte einen Schwindel in ihrem Magen, aber auch die Luft, die noch ihre Lungen füllte. Dann Spannung, die den Körper streckte. Ihren Körper. Darüber Ray, seine Augen - grau, pulsierend, die ohne Hoffnung links und rechts auf der Straße nach Hilfe Ausschau hielten, die nicht kam. Er hatte Mr. Harveys Auto nicht gesehen, sondern war mit einem Strauß Feldblumen für seine Mutter begeistert durch das Gebüsch gekrochen, und da war Ruth, die auf der Fahrbahn lag.
    Ruth drängte von innen gegen ihre Haut, sie wollte heraus. Sie kämpfte darum, ihren Körper zu verlassen, und ich war jetzt drinnen, rang mit ihr. Ich zwang sie zurück, wollte jenes göttlich Unmögliche, aber sie wollte

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