In meinem Himmel
raus. Es gab nichts und niemanden, der sie daran hindern konnte, fortzufliegen. Ich schaute zu, wie ich es so oft vom Himmel aus getan hatte, doch diesmal war es ein verwischter Fleck neben mir. Es waren Lust und Zorn, die emporstrebten.
»Ruth«, sagte Ray. »Kannst du mich hören, Ruth?«
Kurz bevor sie ihre Augen schloss und alle Lichter ausgingen und die Welt außer sich war, sah ich in Ray Singhs graue Augen, auf seine dunkle Haut, auf die Lippen, die ich einst geküsst hatte. Dann strich Ruth, wie eine Hand, die sich aus einem festen Griff lockert, an ihm vorbei.
Rays Blick zog mich vorwärts, während das Beobachten aus mir herausströmte und einem erbärmlichen Verlangen Platz machte: auf dieser Erde wieder lebendig zu sein. Nicht von oben zuzuschauen, sondern - das Allersüßeste- dabei zu sein.
Irgendwo in dem blauen Dazwischen hatte ich sie gesehen - Ruth, die mich streifte, als ich zur Erde fiel. Aber sie war nicht der Schatten einer menschlichen Gestalt, kein Geist. Sie war ein gescheites Mädchen, das alle Regeln übertrat.
Und ich war in ihrem Körper.
Ich hörte eine Stimme, die mich vom Himmel her rief. Es war Frannys. Sie rannte auf den Pavillon zu und rief dabei meinen Namen. Holiday bellte so laut, dass sich seine Stimme überschlug und sich hinten in seinem Rachen ohne Unterbrechung um sich selbst drehte. Dann waren Franny und Holiday auf einmal verschwunden, und alles war still. Ich spürte etwas, das mich am Boden hielt, und ich spürte eine Hand in meiner. Meine Ohren waren wie Meere, in denen das, was ich gekannt hatte, Stimmen, Gesichter, Tatsachen, allmählich ertranken. Zum ersten Mal, seit ich gestorben war, öffnete ich die Augen und sah graue Augen, die meinen Blick erwiderten. Ich regte mich nicht, während mir langsam dämmerte, dass das herrliche Gewicht, das mich beschwerte, das Gewicht des menschlichen Körpers war.
Ich versuchte zu sprechen.
»Lass es«, sagte Ray. »Was ist passiert?«
Ich bin gestorben, hätte ich am liebsten gesagt. Wie sagt man: »Ich bin gestorben und jetzt wieder unter den Lebenden?«
Ray hatte sich hingekniet. Um ihn und auf mir waren die Blumen verstreut, die er für Ruana gepflückt hatte. Ich konnte ihre leuchtende elliptische Form vor dem Hintergrund von Ruths dunklen Kleidern ausmachen. Und dann drückte Ray mir sein Ohr auf die Brust, um zu hören, ob ich atmete. Er legte einen Finger auf die Innenseite meines Handgelenks, um meinen Puls zu überprüfen.
»Bist du in Ohnmacht gefallen?«, fragte er, als er mich für lebendig befunden hatte.
Ich nickte. Ich wusste, dass mir diese Gnade auf Erden nicht ewig gewährt sein würde, dass Ruths Wunsch nur vorübergehend in Erfüllung ging.
»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, versuchte ich es, aber meine Stimme war zu leise, zu weit entfernt, und Ray hörte mich nicht. Meine Augen, die ich öffnete, so weit ich konnte, waren fest auf seine gerichtet. Etwas drängte mich abzuheben. Ich dachte schon, ich schwebte wieder in den Himmel, kehrte zurück, doch ich versuchte bloß aufzustehen.
»Ruth«, sagte Ray. »Beweg dich nicht, wenn du dich schwach fühlst. Ich kann dich zum Auto tragen.«
Ich lächelte ihn mit eintausend Watt an. »Mir geht's gut«, sagte ich.
Zögernd, mich genau beobachtend, ließ er meinen Arm los, hielt meine andere Hand jedoch weiterhin fest. Er stand zusammen mit mir auf, und die Feldblumen fielen aufs Pflaster. Im Himmel verstreuten die Frauen Rosenblütenblätter, als sie Ruth Connors sahen.
Ich sah, wie sich ein verblüfftes Lächeln auf seinem schönen Gesicht ausbreitete. »Dir geht's also wieder gut«, sagte er. Vorsichtig kam er nahe genug, um mich zu küssen, sagte aber, er wolle nur überprüfen, ob meine Pupillen gleich groß seien.
Ich spürte das Gewicht von Ruths Körper, das köstliche Wippen von Brüsten und Schenkeln, aber auch eine schreckliche Verantwortung. Ich war eine Seele, die auf die Erde zurückgekehrt war. Ein Kurzurlaub vom Himmel, den ich geschenkt bekommen hatte. Ich zwang mich dazu, so aufrecht wie möglich zu stehen.
»Ruth?«
Ich versuchte, mich an den Namen zu gewöhnen. »Ja«, erwiderte ich.
»Du hast dich verändert«, sagte er. »Irgendwas ist anders.«
Wir standen fast mitten auf der Fahrbahn, doch dies war mein Augenblick. Ich hätte es ihm so gern erzählt, aber was sollte ich sagen? »Ich bin Susie, ich habe nur wenig Zeit.« Ich hatte zu viel Angst.
»Küss mich«, sagte ich stattdessen.
»Was?«
»Hast du keine
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