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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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gefunden hatten - in dem Erschauern, das sie verspürt hatte, als ich sie streifte.
    Ray ging, wie ich, morgens zu Fuß, da er am entlegenen Ende unserer Siedlung wohnte, die die Schule umgab. Er hatte Ruth Connors allein auf den Fußballplätzen herumwandern sehen. Seit Weihnachten war er den Weg zur und von der Schule so schnell gegangen, wie er konnte, und hatte sich nie lange aufgehalten. Er wünschte sich fast so sehr wie meine Eltern, dass mein Mörder gefasst würde. Bis dahin konnte Ray sich eines Rests von Verdacht nicht entledigen, trotz seines Alibis.
    Er wählte einen Morgen, an dem sein Vater nicht in der Universität arbeiten würde, und füllte die Thermosflasche seines Vaters mit dem süßen Tee seiner Mutter. Er brach früh auf, um auf Ruth zu warten, und machte aus der Kugelstoßplattform aus Zement einen kleinen Lagerplatz, indem er sich auf den gebogenen Metallrand setzte, gegen den die Kugelstoßer ihre Füße stemmten.
    Als er sie auf der anderen Seite des Maschendrahtzauns entlanglaufen sah, der die Schule vom Fußballplatz trennte, und innerhalb dessen sich der höchstgeschätzte aller Sportplätze befand - das Football-Feld -, rieb er sich die Hände und bereitete vor, was er sagen wollte. Sein Mut rührte diesmal nicht daher, dass er mich geküsst hatte - ein Ziel, das er sich ein ganzes Jahr, ehe er es erreichte, gesteckt hatte -, sondern daher, dass er, vierzehn Jahre alt, äußerst einsam war.
    Ich schaute zu, wie Ruth in der Annahme, sie sei allein, sich dem Fußballplatz näherte. Aus einem alten Haus, das ihr Vater geräumt hatte, hatte er ihr etwas Besonderes mitgebracht, das zu ihrem neuen Hobby passte - eine Anthologie mit Gedichten. Sie drückte sie fest an sich.
    Sie sah Ray aufstehen, als sie noch ein Stück entfernt war.
    »Hallo, Ruth Connors!«, rief er und schwenkte die Arme.
    Ruth sah zu ihm hinüber, und ihr fiel sein Name ein: Ray Singh. Viel mehr wusste sie allerdings nicht. Sie hatte das Gerücht gehört, dass die Polizei bei ihm gewesen sei, doch sie glaubte an das, was ihr Vater gesagt hatte - »Das hat kein Jugendlicher getan« -, und deshalb ging sie auf ihn zu.
    »Ich habe Tee hier in meiner Thermoskanne«, sagte Ray. Oben im Himmel errötete ich an seiner Stelle. Er war intelligent, wenn es sich um
Othello
drehte, doch jetzt benahm er sich wie ein Depp.
    »Nein, danke«, sagte Ruth. Sie stand in seiner Nähe, aber definitiv ein ganzes Stück weiter weg als üblich. Ihre Fingernägel pressten sich in den abgegriffenen Einband der Gedicht-Anthologie.
    »Ich war auch da an dem Tag, als du hinter der Bühne mit Susie gesprochen hast«, sagte Ray. Er streckte ihr die Thermoskanne entgegen. Sie trat keinen Schritt näher und antwortete nicht.
    »Susie Salmon«, erläuterte er.
    »Ich weiß, wen du meinst«, sagte sie.
    »Gehst du zur Trauerfeier?«
    »Ich wusste nicht, dass eine stattfindet«, sagte sie.
    »Ich glaube nicht, dass ich hingehe.«
    Ich starrte angestrengt auf seine Lippen. Sie waren von der Kälte röter als sonst. Ruth machte einen Schritt vorwärts.
    »Möchtest du Lippenbalsam?«, fragte Ruth.
    Ray hob seine Wollhandschuhe an seinen Mund, wo sie sich kurz in der rissigen Oberfläche verfingen, die ich geküsst hatte. Ruth griff in die Tasche ihrer Matrosenjacke und holte ihren Lippenfettstift heraus. »Hier«, sagte sie, »ich habe Massen davon. Du kannst ihn behalten.«
    »Das ist sehr nett«, sagte er. »Setzt du dich wenigstens zu mir, bis die Busse kommen?«
    Sie saßen nebeneinander auf der zementenen Kugelstoßerplattform. Wieder sah ich etwas, das ich sonst nie gesehen hätte: die beiden zusammen. Das machte Ray attraktiver für mich, als er es je gewesen war. Seine Augen waren von einem ganz dunklen Grau. Als ich ihn vom Himmel aus beobachtete, zögerte ich nicht, mich in sie zu stürzen.
    Es wurde ein Ritual für die beiden. An den Tagen, an denen sein Vater unterrichtete, brachte Ruth ihm in dem Fläschchen ihres Vaters ein wenig Bourbon mit; sonst tranken sie gesüßten Tee. Ihnen war eiskalt, doch das schien ihnen nichts auszumachen.
    Sie redeten darüber, wie es war, in Norristown fremd zu sein. Sie lasen einander Gedichte aus Ruths Anthologie vor. Sie redeten über das, was sie werden wollten. Arzt im Falle von Ray. Malerin/Schriftstellerin im Falle von Ruth. Sie bildeten einen Klub aus den anderen Sonderlingen, die sie in unserer Klasse ausfindig machen konnten. Da waren die offenkundigen wie Mike Bayles, der so viel LSD genommen hatte,

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