In meinem Himmel
verknallt war. Er war im vorigen Jahr aus England hergezogen, doch Clarissa meinte, er sei in Indien geboren. Dass jemand das Gesicht eines Landes und die Stimme eines anderen haben und dann in ein drittes Land ziehen konnte, fand ich unglaublich. Dadurch war er in meinen Augen schon cool. Außerdem schien er achthundertmal intelligenter als wir übrigen, und er war verknallt in mich. Das, was ich schließlich als Affektiertheit erkannte - das Smokingjackett, das er manchmal in der Schule trug, und seine ausländischen Zigaretten, die in Wahrheit seiner Mutter gehörten -, hielt ich für den Beweis seiner besseren Kinderstube. Er wusste und sah Dinge, die wir anderen nicht sahen. Als er mich an jenem Morgen ansprach, plumpste mein Herz zu Boden.
»Hat es noch nicht geklingelt?«, fragte ich.
»Ich habe Morgenappell bei Mr. Morton«, sagte er. Das erklärte alles. Mr. Morton hatte immer einen Kater, der während des Morgenappells auf dem Höhepunkt war. Er kontrollierte die Anwesenheit der Schüler nie.
»Was machst du da oben?«
»Komm rauf und guck's dir an«, sagte er, Kopf und Schultern meinem Blick entziehend.
Ich zögerte.
»Los doch, Susie.«
Es war der einzige Tag in meinem Leben, an dem ich ein unartiges Mädchen war - oder zumindest so tat, als ob. Ich stellte meinen Fuß auf die unterste Sprosse des Gerüsts und streckte die Arme nach der ersten Querstrebe aus.
»Nimm dein Zeug mit«, riet Ray.
Ich holte meine Schultasche und kletterte dann unbeholfen nach oben.
»Komm, ich helfe dir«, sagte er und legte mir die Hände in die Achselhöhlen, was mich, obwohl ich meinen Winterparka anhatte, befangen machte. Ich setzte mich einen Moment hin und ließ meine Füße über den Rand baumeln.
»Zieh sie ein«, sagte er. »Damit uns keiner sieht.«
Ich tat, was er mir gesagt hatte, dann starrte ich ihn einen Augenblick lang an. Auf einmal kam ich mir blöd vor - ich wusste nicht, wieso ich eigentlich da war.
»Bleibst du den ganzen Tag hier oben?«, fragte ich.
»Nur, bis die Englischstunde vorbei ist.«
»Du schwänzt Englisch!« Es war, als ob er gesagt hätte, er habe eine Bank überfallen.
»Ich habe jedes Shakespeare-Stück gesehen, das die Royal Shakespeare Company aufgeführt hat«, sagte Ray. »Die alte Kuh kann mir nichts beibringen.«
Mrs. Dewitt tat mir Leid. Wenn es zum Unartigsein gehörte, Mrs. Dewitt eine alte Kuh zu nennen, machte ich nicht mit.
»Mir gefällt
Othello
«, wagte ich mich vor.
»So wie sie es unterrichtet, ist es gönnerhafter Quatsch. Eine Art
Reise-durch-das-Dunkel
- Version des Mohren.«
Ray war klug. Das sowie die Tatsache, dass er ein Inder aus England war, machte ihn in Norristown zum Marsmenschen.
»Der Typ in dem Film sah ziemlich dämlich aus mit seiner schwarzen Schminke«, sagte ich.
»Du meinst Sir Laurence Olivier.«
Ray und ich waren still. Still genug, um die Klingel zu hören, die das Ende des Morgenappells ankündigte, und dann, fünf Minuten später, die Klingel, die besagte, dass wir uns im Erdgeschoss zu Mrs. Dewitts Unterricht einfinden sollten. Mit jeder Sekunde, die nach diesem Klingelton verstrich, spürte ich, wie meine Haut sich mehr und mehr erhitzte und Rays Blicke immer weiter über meinen Körper schweiften, meinen königsblauen Parka in sich aufnahmen und den knallgrünen Minirock mit den passenden Danskin-Stumpfhosen. An den Füßen trug ich Stiefel mit einem Futter aus Schafspelzimitat, und die schmutzige synthetische Wolle quoll wie Tierinnereien über den Rand und aus den Nähten. Hätte ich gewusst, dass dies die Sexszene meines Lebens sein würde, hätte ich mich vielleicht ein bisschen darauf vorbereitet und neuen Lipgloss mit Erdbeer-Bananen-Geschmack aufgetragen.
Ich fühlte, wie Ray sich über mich beugte, und das Gerüst unter uns quietschte bei seiner Bewegung.
Er kommt aus England
, dachte ich. Seine Lippen kamen näher, das Gerüst wackelte. Mir war schwindlig, denn ich war dabei, in die Welle meines ersten Kusses einzutauchen, als wir beide etwas hörten. Wir erstarrten.
Ray und ich legten uns nebeneinander und starrten auf die Lampen und Kabel über uns. Einen Augenblick später öffnete sich die Bühnentür, und herein traten Mr. Peterford und Miss Ryan, die Kunstlehrerin, die wir an ihren Stimmen erkannten. Eine dritte Person war bei ihnen.
»Wir ergreifen diesmal noch keine disziplinarischen Maßnahmen, aber wenn du so weitermachst, werden wir es tun«, sagte Mr. Peterford. »Haben Sie das Material mitgebracht,
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