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In meinem Himmel

Titel: In meinem Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Sebold
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Seiten ihres Heftes um und sog sie in mich auf. Was sich auf diesen Zeichnungen unterhalb der schwarzen Linie des Bauchnabels befand - meine Mutter nannte es den »Babyherstellungs-Apparat« -, ängstigte und faszinierte mich zugleich.
    Zu Lindsey sagte ich immer, ich wolle keins haben, und als ich zehn war, verbrachte ich fast ein halbes Jahr damit, jedem Erwachsenen, der zuhörte, mitzuteilen, dass ich beabsichtigte, mir die Eileiter durchtrennen zu lassen. Ich wusste nicht genau, was das bedeutete, doch ich wusste, dass es eine drastische Maßnahme war, die eine Operation erforderte, und mein Vater lachte laut darüber.
    Ruth sah ich ab dem Tag nicht mehr als merkwürdig, sondern als etwas Besonderes an. Die Zeichnungen waren so gut, dass ich in dem Moment die Vorschriften der Schule vergaß, all die Klingeln und Trillerpfeifen, auf die wir als Kinder zu reagieren hatten.
    Nachdem das Maisfeld abgesperrt, durchsucht und dann verlassen worden war, ging Ruth dort spazieren. Sie wickelte sich in einen breiten Wollschal von ihrer Großmutter und trug darüber die schäbige Matrosenjacke ihres Vaters. Sie stellte bald fest, dass die Lehrer in allen Fächern außer Sport sie nicht meldeten, wenn sie schwänzte. Sie waren froh darüber, sie nicht dabeizuhaben: Ihre Intelligenz machte sie zum Problem. Sie verlangte Aufmerksamkeit und trieb sie in ihren Lehrplänen an.
    Und sie fing an, sich morgens von ihrem Vater mitnehmen zu lassen, um den Bus zu meiden. Er verließ sehr früh das Haus und nahm seine oben abgeschrägte Frühstücksdose aus rotem Blech mit, die sie, als sie klein war, als Stall für die Pferde ihrer Barbies hatte benutzen dürfen und in der er jetzt Bourbon versteckte. Bevor er sie auf dem leeren Parkplatz aussteigen ließ, hielt er seinen Laster an, ließ aber die Heizung laufen.
    »Alles in Ordnung heute?«, fragte er dann immer.
    Ruth nickte.
    »Einen auf den Weg?«
    Und ohne noch einmal zu nicken, reichte sie ihm die Dose. Er öffnete sie, schraubte das Bourbon-Fläschchen auf, nahm einen großen Schluck und gab es an sie weiter. Sie warf theatralisch den Kopf in den Nacken und drückte entweder die Zunge so an das Glas, dass nur sehr wenig Flüssigkeit in ihren Mund gelangte, oder nahm zusammenzuckend einen kleinen Schluck, wenn er sie beobachtete.
    Sie rutschte aus der hohen Fahrerkabine. Es war kalt, bitterkalt, ehe die Sonne aufging. Dann fiel ihr etwas ein, das wir im Unterricht gelernt hatten: Menschen, die sich bewegen, ist es wärmer als Menschen in Ruhestellung. Also begann sie, in flottem Tempo direkt auf das Maisfeld zuzugehen. Sie redete mit sich selbst, und manchmal dachte sie an mich. Oft lehnte sie sich ein Weilchen an den Maschendrahtzaun, der den Fußballplatz von der Aschenbahn trennte, und schaute zu, wie die Welt um sie her zum Leben erwachte.
    So trafen wir einander in jenen ersten Monaten jeden Morgen. Die Sonne stieg über dem Maisfeld auf, und Holiday, den mein Vater von der Leine gelassen hatte, kam, um zwischen den hohen, trockenen, verwelkten Maisstängeln Kaninchen zu jagen. Die Kaninchen liebten die gestutzten Rasenflächen der Sportplätze, und wenn Ruth sich näherte, sah sie, wie ihre dunklen Gestalten sich entlang der weißen Kreidestreifen der weit entfernten Spielfeldgrenzen aufreihten wie eine winzige Mannschaft. Ihr gefiel diese Vorstellung und mir auch. Sie glaubte, dass ausgestopfte Tiere sich nachts bewegen, wenn die Menschen schlafen. Sie dachte immer noch, in der Frühstücksdose ihres Vaters seien vielleicht Miniaturkühe und -schafe, die Zeit fänden, sich an dem Bourbon und der Mortadella zu laben.
    Als Lindsey die Handschuhe von Weihnachten zwischen dem äußersten Rand des Fußballplatzes und dem Maisfeld für mich hinlegte, schaute ich eines Morgens hinunter und sah die Kaninchen Untersuchungen anstellen: Sie schnupperten an den Ecken der Handschuhe, die mit ihrer eigenen Verwandtschaft gefüttert waren. Dann sah ich, wie Ruth sie aufhob, ehe Holiday sie sich schnappte. Sie drehte einen Handschuh so um, dass das Fell herausschaute, und hielt ihn an ihre Wange. Sie blickte in den Himmel und sagte: »Danke.« Mir gefiel der Gedanke, dass sie mit mir sprach.
    An diesen Vormittagen gewann ich Ruth lieb und hatte das Gefühl, dass wir auf eine Weise, die wir uns auf den sich gegenüberliegenden Seiten des Dazwischen nie würden erklären können, dazu bestimmt waren, einander Gesellschaft zu leisten. Eigenartige Mädchen, die sich auf seltsamste Weise

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