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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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erklären, dass er seinen Ruf als Garden State verdiente – immerhin verfügte er über Tausende Hektar an Parks und Landschaftsschutzgebieten. In Countys wie Morris, Essex und Sussex lebte auch ein gewisser Anteil an Reichen. Die ausgedehnten Anwesen rund um Morristown waren Pferdeland, und Upper Saddle River im Norden war der letzte Wohnsitz des ehemaligen Präsidenten Richard Nixon. Nichts, worauf man vielleicht stolz sein konnte, es ließ jedoch einen gewissen Grad an Reichtum erkennen.
    Als er in die Zufahrt zum Haus seiner Mutter in Stockton einbog, ging es ihm schon besser. Sein Körper entspannte sich im Rhythmus des Landlebens, der gedämpfter und langsamer war als in Manhattan, wo es unnachgiebig und schnell zuging. Das unerbittliche Tempo konnte einem den Atem rauben und einen runterziehen, wenn man nicht darauf gefasst war.
    Auf dem Rasen des Vorplatzes lag ein Findling, der ihm viel bedeutete, weil er mit seiner Schwester stundenlang darauf gespielt hatte. Irgendwann einmal hatten sie ihn Schildkrötenfels getauft. Er hatte vergessen, wer von ihnen auf den Namen gekommen war. Jedenfalls passte er, denn aus der Entfernung glich der Gesteinsbrocken tatsächlich einer riesigen Schildkröte; sein breiter grauer Rücken krümmte sich in einem Winkel, der an einen Schildkrötenpanzer erinnerte. In ihrer magischen Kinderwelt war aus dem Brocken alles Mögliche geworden: ein Segelschiff, ein Pferd, ein Zigeunerwagen. Er hatte nie die Fähigkeit verloren, die Unbeschwertheit dieser Zeit wieder wachzurufen, bevor die Tragödie ihre schwarzen Schwingen über ihrer kleinen Familie ausbreitete und sie in ihre dunkle Umarmung zerrte.
    Vor Jahren, als seine Mutter davon sprach, den Findling entfernen zu lassen, hatten Lee und Laura es geschafft, es ihr auszureden. So blieb er, wo er war, ein Relikt ihrer gemeinsamen Kindheit. Und jetzt stand seine Nichte auf diesem geduldigen, behäbigen Granitbrocken und wartete auf ihn. Im blendenden Gegenlicht schien es, als wäre die kleine, geschmeidige Gestalt darauf seine Schwester, aber es war nur eine Lichttäuschung. Lauras Haar war schwarz wie sein eigenes, nicht blond – Kylie hatte die Haarfarbe ihres Vaters.
    »Onkel Lee!«, schrie Kylie und warf sich in seine Arme, noch bevor er Zeit hatte, die Autotür zu schließen. Kinder bewegten sich mit der sorglosen Anmut junger Tiere, die sie ja auch waren, ganz zu Hause in ihrem Körper. Er drückte sie und atmete den Zitronenduft ihres Haars ein. Mit kindlich-rücksichtsloser Ungezwungenheit riss sie sich los und hüpfte vor sich hinsummend aufs Haus zu.
    Fiona Campbell stand auf der Vordertreppe, den Rücken durchgestreckt und steif, als wäre sie ein Militäroffizier, und schirmte die Augen gegen die grelle Mittagssonne ab. Körperliche Überlegenheit war Teil des Familienmythos, ebenso wie eine allgemeine Ungeduld, die Lee für genetisch hielt. Er hatte zwar nicht ihren Drang, eine Haltung der Unverletzlichkeit aufrechtzuerhalten, dafür aber ihre rastlose, kinetische Art.
    Seine Mutter hatte zahlreiche Freundinnen, allesamt starke, unbeugsame Frauen wie sie selbst. Einige waren Witwen, andere hatten sich nach vielen Jahren Ehe scheiden und ihre Männer hinter sich gelassen wie ein ausrangiertes Gepäckstück auf einem Bahnsteig. Dennoch war sie im Grunde Einzelgängerin und auf der Hut, was die Nähe zu anderen anging. Sie packte ihren einzigen Sohn bei den Schultern und umarmte ihn zügig und kraftvoll. Seine Mutter war kein gefühlsoffener Mensch; zu viel Körperkontakt bereitete ihr Unbehagen. Kylie schien das allerdings nichts auszumachen. Geistesabwesend wickelte sie sich eine Locke um den Finger. Als sie auf dem Vorplatz einen Hula-Hoop-Reifen entdeckte, rannte sie zu ihm und spielte damit.
    Seine Mutter beobachtete sie und wandte sich dann an ihren Sohn. »So!«, sagte sie mit ihrer typischen spröden Aufgeräumtheit. »Wie wäre es mit einer ordentlichen Tasse Tee nach der langen Fahrt?« Fiona Campbell war eine kuriose Mischung aus Charme der Alten Welt und untadeligen Manieren, kombiniert mit der Persönlichkeit einer tickenden Zeitbombe.
    Lee lächelte. »Klar, warum nicht?« Er folgte ihr hinein – nach Brigadoon. In der Manier der Bewohner der Britischen Inseln hatte Fiona ihrem Haus einen phantasievollen Namen gegeben. Das sah ihr zwar in gewisser Hinsicht gar nicht ähnlich, entsprach jedoch ihrer gefühlsmäßigen Verbundenheit mit ihrer Heimat. Die Räume waren klein und im Winter dunkel, aber sie liebte

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