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In sueßer Ruh

In sueßer Ruh

Titel: In sueßer Ruh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Sätzen kam Stan über den Rasen. Mit seinen krummen O-Beinen bewegte er sich wie ein Seemann. Ohne die Treppe in Anspruch zu nehmen, sprang er auf die Veranda und ergriff mit beiden Händen Lees Hand. Seine Begrüßung war so herzlich und vital wie er selbst.
    »Wie geht’s, wie steht’s, Lee?«, fragte er und küsste Fiona auf die Wange.
    »Gut«, sagte Lee. »Und selbst?«
    »Kein Grund zum Klagen – würde sowieso keiner zuhören«, erwiderte er fröhlich und schenkte sich selbst einen Tee ein. Stan verwendete Redensarten wie Bücher aus der Bibliothek. Hin und wieder schaffte es ein neues Klischee in seine Floskelsammlung, bis es mit der Zeit verschliss und Eselsohren bekam. Den Spruch von eben hatte Lee jedenfalls schon über ein Dutzend Mal gehört.
    Stan hielt seine Teetasse hoch und zwinkerte Lee zu. »Gibt’s was Stärkeres?«, fragt er Fiona.
    Sie runzelte die Stirn und sah auf ihre Armbanduhr. »Ist es nicht ein bisschen früh?«
    Stan grinste. »Ich erzähl’s nicht weiter, wenn du’s auch nicht tust.«
    Sie seufzte und erhob sich von ihrem Adirondack-Gartensessel aus Zedernholz, einem ihrer jüngsten Beutestücke aus einer Haushaltsauflösung.
    Stan zwinkerte Lee erneut zu. »Sie findet was, keine Sorge.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück, faltete die Hände hinterm Kopf und seufzte vor Behagen. Seine Unterarme waren mit dichten schwarzen Haaren überzogen. Fiona tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. Sie stapfte ins Haus und knallte die Tür mit dem Fliegengitter hinter sich zu.
    Als sie gegangen war, ließ Stan die Arme sinken und beugte sich vor. »Sie macht sich Sorgen um deine Nichte, weißt du«, sagte er leise.
    »Ich weiß«, erwiderte Lee. »Ist es eine Überreaktion, was meinst du?«
    Stan schlug eine Stechmücke tot, die sich im dichten Haargestrüpp seines Arms verfangen hatte, und schnippte sie auf den Steinboden. »Schwer zu sagen. Könnte schon sein, aber das sähe Fiona eigentlich nicht ähnlich.«
    »Eigentlich nicht.«
    Stan hatte recht. Fiona war Anhängerin des schottischen Stoizismus: Wenn etwas wehtut, ignoriere es so lange wie möglich, es könnte ja wieder vorbeigehen. Diese Einstellung hatte dazu beigetragen, dass Lee in der psychiatrischen Abteilung des St.-Vincent-Hospitals gelandet war. Aber alte Gewohnheiten waren schwer abzulegen, und er ähnelte seiner Mutter mehr, als er sich eingestehen mochte.
    »Du glaubst also wirklich, dass deine Schwester tot ist?«, fragte Stan.
    Die Unverblümtheit der Frage ließ Lee in die Defensive gehen. Er fand sie unangemessen privat. Andererseits: So war Stan eben. Er trickste nicht und wich Schwierigkeiten niemals aus.
    »Ja, das tue ich«, sagte Lee.
    »Und weshalb?«
    »Die Chancen, dass sie noch am Leben ist, sind –«
    »Vergiss die Chancen«, meinte Stan. »Was sagt dir dein Bauchgefühl?«
    »Dass sie tot ist. Und meine Ausbildung – und alles, was ich über sie weiß und über das Wesen dieser –«
    »Serienmörder?«, sagte Stan. »Das machst du doch, oder? Du analysierst diese Irren, diesen Abschaum der Menschheit, und fängst sie ein?«
    »Zum einen. Mein Job beinhaltet noch weitere –«
    »Ja, ja, ich weiß«, unterbrach ihn Stan. »Du bringst nicht jede Minute damit zu, genauso wenig wie mein Vater in seinem Laden nicht den lieben langen Tag Fleisch zerlegt hat. Aber genau das glauben die Leute, wenn sie an Metzger denken. Und ebendas, wenn sie an Profiler denken.«
    »Und dein Standpunkt?«
    »Mein Standpunkt ist, dass dein Verstand in eine bestimmte Richtung arbeitet. Du hast diese Kerle in Aktion gesehen, und du weißt, wie sie vorgehen. Und deshalb glaubst du, dass sich einer von denen Laura geschnappt hat. Das ist für jemanden wie dich, der tut, was er tut, nur natürlich, richtig?«
    »Auf jeden Fall war es ein Serientäter, und die Chancen, dass sie noch lebt –«
    Stan warf die behaarten Arme hoch. »Wovon ich rede, sind Möglichkeiten. Und schau, daran hält deine Mutter fest. An der Möglichkeit, dass du dich irren könntest.«
    »Das verstehe ich ja, aber irgendwann mal muss man realistisch sein –«
    »Wer sagt das? Gibt es ein Regelbuch, wo drinsteht, wie man damit umgehen muss, wenn jemand verschwindet, den man liebt? Irgendeine Etikette für das richtige Verhalten? Ich denke nämlich, das gibt’s nicht, weißt du.«
    Aus dem Haus war Telefonläuten zu hören. Kurz darauf erschien Fiona mit dem Telefon in der einen und einem Bier in der anderen Hand. Sie gab Stan das Bier und Lee das

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