In sueßer Ruh
Telefon.
»Es ist für dich. Irgendwer mit deutschem Akzent.«
Lee nahm das Telefon entgegen und fragte sich flüchtig, woher Krieger seine Nummer hatte. Aber er war mit den Gedanken woanders. Er dachte an Stans Worte.
KAPITEL 43
Die Rückfahrt in die Stadt ging an diesem Nachmittag überraschend schnell, und Lee musste nicht lange nach einem Parkplatz suchen. Er fand eine Lücke in der 58th Street, aus der gerade ein schwarzer Geländewagen mit Kennzeichen aus New Jersey fuhr – ein echter Glückstreffer in einer Stadt, in der man leicht über eine Stunde suchen konnte, bevor man aufgab und sein Erspartes für ein Parkhaus zusammenkratzte.
Während sie auf das Restaurant zugingen, tanzte Kylie in kleinen Kreisen auf dem Bürgersteig herum und sang: »Jekyll und Hyde, Hydee Hodee Hyde!«
Lee dachte über Kriegers Anruf von vorhin nach. Sein Handy hatte in diesem Teil New Jerseys kein gutes Netz, er hatte jedoch keine Ahnung, wie sie an Fionas Nummer gekommen war – und woher sie gewusst hatte, dass er bei ihr war. Es war aufdringlich von ihr, ihn dort anzurufen, dennoch rührte ihn ihr Eifer. Sie strengte sich sichtlich an, ein Teamplayer zu sein, auch wenn sie sich bei den meisten ihrer Telefonate vor allem über die Zusammenarbeit mit Butts beklagte. Ein Duo aus der Hölle, dachte er.
Er sah auf die Armbanduhr. Es war fast achtzehn Uhr. An den meisten Tagen bildeten sich davor bereits ab halb sechs Schlangen auf dem Bürgersteig, und wenn die Türen um sechs aufgingen, wurden die Gäste von einem der ungefähr zwölf kostümierten Schauspieler, die das Restaurant beschäftigte, hineingeführt. Kylie gefiel es, sich mit ihnen zu unterhalten, genau wie viele andere Kinder, die hierherkamen.
Die Auffassung des Restaurants von »gruselig« war lustig und harmlos wie eine Geisterbahn in Disneyland. Die Schauspieler, die in Verkleidung darin herumstreunten, waren meist jung und engagiert und gut darin, mit den Gästen zu kommunizieren.
Sie bogen auf die Sixth Avenue ab und stellten sich in die Warteschlange. Der Eingang des Klubs war ein grelles Sammelsurium architektonischer Stile, darunter falsche ionische Säulen und eine gigantische, ägyptisch aussehende Totenmaske, gekrönt von einem grinsenden Totenschädel aus Marmor. Das Ganze wirkte wie der Entwurf eines bipolaren Architekten mit schwerem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.
Während sie auf der Straße warteten, sah sich Lee die anderen Gäste an. Es gab die übliche Auswahl an Touristen, denen Michelin-Führer aus überdimensionalen Handtaschen ragten (New Yorker trugen keine Handtaschen: Rucksäcke, Aktenkoffer, Schulterbeutel, winzige Geldbörsen, Umhängetaschen, ja – aber nie Handtaschen). Auswärtige waren leicht zu erkennen: kürzere Haarschnitte, Apfelbäckchen und breite, sommersprossige Gesichter, die Arglosigkeit und Vertrauen ausstrahlten. Ihre Körper waren weicher und runder, ihnen fehlte die im Sportstudio gestählte Härte vieler New Yorker.
Die Frauen trugen entweder gar kein Make-up oder zu viel, etwa blauen oder grünen Lidschatten – Farben, die man an New Yorkerinnen seit den Siebzigern nicht mehr gesehen hatte. Ihre Frisuren waren Eigenkreationen oder vom Friseur in einem Einkaufszentrum, nicht von irgendeinem angesagten, teuren Salon auf der Fifth Avenue.
Eine Familie mit vier dicken, rotwangigen Kindern stand dicht zusammengedrängt beieinander, die blonden Schöpfe über einen Stadtplan gebeugt. Ihre Gesichter verrieten die Freundlichkeit und Zufriedenheit, die auf ein Leben in der ironiefreien Zone des amerikanischen Binnenlands zurückgeht. Das waren keine Stadtmenschen. Wenn sie den Mund aufmachten, sprudelte dieses Näseln des Mittleren Westens heraus.
»Wo wollt ihr denn morgen hin?«, fragte der Vater in einem Tonfall, der wie ein Leichtflugzeug in einem Jetstream aus Optimismus und Glaube an die Güte seiner Mitmenschen schwebte.
Das waren Menschen, die beim ersten Schlag zusammenklappten.
Chuck war auch einmal so ein Mensch gewesen, als er im ersten Studienjahr aus Ohio nach Princeton kam. Mit seinen blonden Haaren und blauen Augen hatte ihn eine Aura der Unschuld umgeben, doch mit der Zeit hatte er sich verändert. Dieser Transformationsprozess hatte schon mit seinem Umzug in den Osten eingesetzt und war abgeschlossen, als er seinen Abschluss an der New York Police Academy machte. Daraufhin war er auf schnellstem Wege Revierleiter geworden, bevor er seinen derzeitigen Posten als Chef des Morddezernats Bronx
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