In Todesangst
sagte Mrs Shaw.
»Hi«, sagte ich zu dem jungen Burschen, der neben ihr stand.
Im ersten Moment hatte ich ihn auf Mitte zwanzig geschätzt, aber jetzt war ich mir nicht mehr so sicher. Er wirkte überaus jungenhaft; sein Teint war weich und milchig, sein kurzes Haar so ordentlich gekämmt, als sei er eben erst beim Friseur gewesen. Auch mit vierzig würde er wahrscheinlich noch so aussehen, als hätte er gerade die Schule beendet. Er war schlank und einen guten Kopf größer als Mrs Shaw. Seine Augen schienen sich permanent zu bewegen.
»Ian, sag hallo«, sagte sie, als würde sie mit einem Sechsjährigen sprechen.
»Hallo«, sagte er.
»Arbeiten Sie hier?«, fragte ich. »Ich kann mich nicht erinnern, Sie letztes Mal hier gesehen zu haben.«
Er nickte.
»Ian ist für die Lieferungen zuständig und den ganzen Tag unterwegs.« Mrs Shaw deutete auf einen blauen Toyota-Minivan, auf dessen Hecktüren »Shaw Flowers« stand. »Ich habe dir doch davon erzählt«, sagte sie zu Ian. »Von dem Mann, dessen Tochter verschwunden ist.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.«
»Klar habe ich’s dir erzählt. Du hörst einfach nie zu.« Sie lächelte mich an und verdrehte die Augen. »Immer ist er mit den Gedanken woanders. Oder er hört nichts, weil er mal wieder die Stöpsel von seinem iPod in den Ohren hat.«
Ian wich ihrem Blick aus.
»Zeigen Sie ihm doch mal das Bild«, sagte Mrs Shaw. »Er wohnt nämlich hier. Direkt hinter dem Laden.«
Ein Mann betrat den Sexshop. Mrs Shaw zog eine saure Miene. »Wir waren lange vor diesen Schmutzfinken hier«, sagte sie leise. »Leider hat unsere Unterschriftenaktion keinen Erfolg gehabt. Aber ich ziehe hier nicht weg.«
Ich reichte Ian das Foto. »Sie heißt Sydney.«
Er streifte das Foto mit einem kurzen Blick und schüttelte den Kopf. »Die kenne ich nicht«, sagte er.
»Aber haben Sie sie vielleicht schon mal hier in der Gegend gesehen?«, hakte ich nach.
»Nein«, sagte er, ohne das Bild eines weiteren Blickes zu würdigen, ehe er Mrs Shaw flüchtig umarmte. »Wir sehen uns morgen.«
Und dann marschierte er um die Straßenecke und verschwand.
***
Ich wurde bereits erwartet, als ich nach Hause kam.
Die Türen von Bobs schwarzem Hummer öffneten sich, sowie ich in die Einfahrt bog. Bob und Susanne stiegen aus. Ich hatte gerade den Motor abgestellt und den Sicherheitsgurt gelöst, als Susanne auf meinen Wagen zusteuerte. Als ich sie zuletzt gesehen hatte, war sie noch an Krücken gegangen; heute stützte sie sich auf einen Stock, dessen Griff sie fest umklammert hielt.
Kurz fragte ich mich, worauf ich mich diesmal gefasst machen konnte. Als Bob und Susanne letztes Mal vorbeigekommen waren – am Tag nach Syds Verschwinden war meine Exfrau auf Krücken auf mich zumarschiert, hatte mir eine schallende Ohrfeige verpasst und mich angeschrien: »Das ist allein deine Schuld! Du hättest auf Syd aufpassen müssen!«
Tja, und damit hatte sie wohl recht.
Seitdem hatte sich nicht viel geändert. Ja, ich war schuld. Ich war meiner Verantwortung als Vater nicht nachgekommen. Ich hätte erkennen müssen, dass etwas nicht stimmte, aber mir war nichts aufgefallen. Hätte ich mich mehr um Syd gekümmert, sie besser im Auge behalten, wäre es nie zu dieser Katastrophe gekommen.
Doch auch wenn ich mich richtig mies fühlte, verspürte ich wenig Lust, die nächste Ohrfeige zu kassieren. Ich merkte, wie sich meine Muskeln anspannten, als ich aus dem Wagen stieg.
Aber ich hatte mich getäuscht. Susanne kam auf mich zu, schlang die Arme um mich und begann zu schluchzen. Bob blieb ein paar Meter entfernt stehen und musterte uns wortlos.
»Was ist denn, Suze?«, fragte ich.
»Es ist etwas passiert«, sagte sie.
DREI
»Was?«, sagte ich. »Was ist passiert?«
Bob Janigan trat einen Schritt vor und sah mich an. »Ach, nichts Besonderes. Ich habe Suze gleich gesagt, dass es nichts bringt, hier Panik zu machen und …«
Ich hob die Hand. Bobs Gefasel interessierte mich nicht die Bohne. »Was ist passiert?«, wiederholte ich. »Hat Syd sich gemeldet? Wie geht es ihr?«
Susanne löste sich von mir und schüttelte den Kopf. O nein, dachte ich. Susanne hatte etwas gehört. Und es war offenbar nichts Gutes.
»Nein«, gab sie zurück. »Ich habe nichts von ihr gehört.«
»Ja, und?«
»Wir werden beobachtet«, sagte sie. Ich sah zu Bob, der kaum merklich den Kopf schüttelte.
»Wer beobachtet euch? Wo?«
»Jemand in einem
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