In weißer Stille
Untersuchungen laufen noch, aber bisher gibt es keine Hinweise auf eineVergiftung. Aufgrund der Auffindesituation und des Zeitraums zwischen Überfall und Entdeckung liegt die Vermutung nahe, dass der Mann verdurstet ist.«
»Verdurstet.« Dühnfort wollte sich das nicht vorstellen. »Wie lange dauert das?«
»Nun ja.« Ursula Weidenbach nahm die Brille ab. »Im Bad war es sehr warm. Dreiundzwanzig Grad. Die Heizung ist ohne Nachtabsenkung programmiert, das habe ich überprüft. Wir können also davon ausgehen, dass die Temperatur konstant war. Aufgrund des Verwesungszustands vermute ich, dass der Mann am Freitag gestorben ist. Dreieinhalb bis vier Tage also.«
»Die Kopfverletzung, woher stammt sie?«, fragte Dühnfort.
»Stumpfe Gewalt. Ein Schlag oder ein Sturz. Wobei ich eher auf Sturz tippen würde, die Wunde befindet sich unterhalb der Hutkrempe.«
Dühnfort dankte Ursula Weidenbach und wandte sich an Buchholz. »Wie sieht es eigentlich mit DNS-Spuren aus?«
»Da gibt es einiges. Auch Fingerabdrücke und Faserspuren. Wir sind dabei, das auszuwerten. Sobald ich was habe, erfährst du es.« Buchholz reckte sich und gähnte.
»Gut. Dann bleibt noch die Frage, wer vom Todesfall profitiert. Ich nehme an, es sind die Kinder. Und mit denen werden wir jetzt reden.«
* * *
Babs saß in der Küche an dem englischen Mahagonitisch, den sie vor Jahren auf einem Flohmarkt gekauft hatte, und trank eine Tasse Kaffee. Dieser Tisch war der Familientreffpunkt. An ihm frühstückte sie mit Albert und den Kindern, aß mit den Jungs zu Mittag, und an manchen Abendenspielten sie hier nach dem Essen
Malefiz
die
Siedler von Catan
oder ein anderes Familienspiel. An diesem Tisch unterhielten sie sich, trafen Entscheidungen, führten Diskussionen. Wie sollte sie den Kindern erklären, dass ihr Opa ermordet worden war?
»Vater ist tot«, hatte Albert gesagt, als er gestern Nacht nach Hause gekommen war. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, ihn falsch verstanden zu haben. Aber ein Blick in sein Gesicht hatte genügt, um zu erkennen, dass sie sich nicht täuschte. Es war grau gewesen, die Lippen farblos, die Züge starr, als versuche er die Tränen zurückzuhalten. Ein Anflug von Schuldgefühl darüber, dass sie Wolframs Putzfrau in ihrer Sorge nicht ernst genommen hatte, war in ihr aufgestiegen. Bevor sie hatte fragen können, was passiert war, hatte Albert sich umgedreht und war im Flur verschwunden. Sie hatte gedacht, er würde die Jacke ausziehen, als er aber nicht wiedergekommen war, hatte sie nach ihm gesehen und ihn im Dunkeln auf dem Bett liegend gefunden. Sie hatte sich neben ihn gelegt und gefragt, was geschehen war. Nach langem Schweigen hatte er angefangen zu erzählen.
Nachdem er geendet hatte, war ihr erster Gedanke gewesen, wie sie das den Jungs sagen sollte. Sie hatte sich ein wenig dafür geschämt, dass sie nicht an Wolfram gedacht hatte oder daran, wie Albert zumute sein musste, sondern zuallererst an die Gefühle ihrer Kinder, die nun innerhalb von vier Wochen Oma und Opa verloren hatten. Sie selbst hatte sich wenig betroffen gefühlt. Wolfram hatte ihr nie nahegestanden, eigentlich hatte sie ihn nicht gemocht.
Der Kaffee war kalt geworden. Als Babs die Tasse zum Spülbecken trug und leerte, hörte sie die Schlafzimmertürknarren und Albert ins Bad gehen. Kurz darauf lief die Dusche.
Um acht hatte Babs in der Praxis angerufen und Margret Hecht gebeten, die Patienten heute an Isolde Kurz zu verweisen, eine Kollegin von Albert, die gelegentlich die Praxisvertretung übernahm.
»Wieso denn das? Ihr Mann ist doch nicht krank?« Margret Hecht schien besorgt zu sein. Babs erklärte ihr den Grund.
»O Gott. Das ist ja entsetzlich. Armer Alb…armer Herr Doktor.«
Einen Moment war Babs irritiert. Normalerweise sprach sie Albert mit
Herr Doktor
an, und auch er siezte seine Angestellte. Aus Prinzip.
»Soll ich die Vertretung nicht besser gleich für ein paar Tage organisieren?«
Albert war ein disziplinierter Mensch. Sicher würde er morgen wieder in die Praxis gehen, eher aus Pflichtgefühl denn aus Leidenschaft. »Ich denke nicht, dass das nötig ist.« Babs hatte das Gespräch beendet und sich gefragt, was es zu bedeuten hatte, dass Margret Hecht ihren Chef neuerdings beim Vornamen nannte. War das eine Art Schwärmerei, Groschenheftromantik? Oder hatte Albert am Ende eine Affäre mit ihr? Dass Albert etwas derart Abgeschmacktes tat, konnte sie sich allerdings nicht vorstellen. Wenn er sie betrog, dann sicher
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