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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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Trotzdem hatte Dühnfort sich vor der Geburtstagsfeier gedrückt. Im August war er dann für eine Woche zu ihm ins Ferienhaus auf Sylt gefahren. Keiner von beiden hatte die heiklen Themen angesprochen. Dühnfort hatte die Ehe und die Scheidung seiner Eltern nicht erwähnt. Er hatte seinen Vater auch nicht gefragt, ob es ihm jemals um Gerechtigkeit gegangen war, wenn er seine Mandanten vor Strafe bewahrt hatte. Und er hatte nicht über seinen Bruder Julius gesprochen, der die Kanzlei übernommen und geheiratet hatte und demnächst Vater wurde. Ganz, wie es den Wünschen und Vorstellungen des Alten entsprach.
    Und Vater hatte nicht gefragt, warum Konstantin damals das Jurastudium abgebrochen hatte und sofort ausgezogen war, warum er den Polizeidienst der Juristenkarriere vorzog. Stattdessen hatten sie über Belanglosigkeiten gesprochen und schweigend Strandwanderungen unternommen, waren abends gut essen gegangen und dann früh zu Bett. Eine erholsame Woche, die schnell vorbei gewesen war. Beim Abschied hatte sein Vater ihn umarmt.
    Dühnfort erreichte die Autobahn. Er fuhr schnell, der Regen setzte wieder ein. Beinahe Mitternacht.
    Ob Agnes geblieben war? Vermutlich nicht. Das hatte sie noch nie getan. Sie wachte lieber in ihrem eigenen Bettauf, auch wenn sie dafür mitten in der Nacht aufstehen musste, als sei sie auf der Flucht. Sie war die Frau, mit der er leben wollte, mit der er Kinder haben wollte. Es war weniger Verliebtheit als eine ruhige Gewissheit, die ihm Sicherheit gab. Aber er wollte mehr, als sie ihm geben konnte oder wollte, und er fühlte sich dem nicht mehr gewachsen. Ihm stand plötzlich ein Bild vor Augen: eine Welle, die durch ihr ständiges Anbranden einen Felsen glattschliff, ihn aushöhlte, zu Sand zerrieb und schließlich mit sich forttrug.
    Er schaltete das Radio an. Es gab Nachrichten, anschließend den Wetterbericht und ein klassisches Konzert. Während er der Musik lauschte, erreichte er das Autobahnende und folgte dem Mittleren Ring Richtung Süden. Er parkte den Wagen vorm Haus und sah nach oben. In seiner Wohnung war es dunkel, vielleicht schlief Agnes. Als er die Wohnungstür aufsperrte, spürte er jedoch, dass sie nicht hier war. Die Einsamkeit umgab ihn wie ein Mantel, den er nicht ausziehen konnte. Er schaltete das Licht an und fand einen Zettel auf dem Küchentisch.
Hallo Tino, ich bin doch lieber nach Hause gefahren. Morgen Nachmittag habe ich einen Termin in der Stadt. Wenn du Lust hast, könnten wir uns danach treffen. Ruf mich an. Agnes.
    Lust, dachte er. Ging es nur darum? Nur um Sex? Nein, dachte er. Sie hätte auch schreiben können,
wenn du magst,
aber sie hatte
wenn du Lust hast
geschrieben. In diesem Moment entschied er sich. Das eine Wort gab den Ausschlag.

D IENSTAG , 14 . O KTOBER
    Missmutig eilte Dühnfort durch die Blumenstraße, vorbei am Viktualienmarkt mit seinen grünen Verkaufsbuden, den bunten Schirmen und einer überbordenden Fülle an Lebensmitteln aller Art. Er hatte verschlafen und ohne Frühstück die Wohnung verlassen. Über der Stadt ballten sich graue Wolken, das Gehwegpflaster glänzte vor Nässe, ein feiner Regen fiel unaufhörlich. Durch die Straßen zog ein kalter Wind, der ihn an das Meer denken ließ. Es fehlte ihm. Der Blick über diese wogende, tosende, sich immer in Bewegung befindliche Weite gab ihm das Gefühl von Freiheit, den Glauben daran, dass noch etwas vor ihm lag.
    Kurz nach neun betrat er das Besprechungszimmer. Alois war in seine Unterlagen vertieft, eine Tasse grünen Tee vor sich. Wie immer erweckte er den Eindruck, den Seiten eines Herrenmagazins entstiegen zu sein. Glattrasierte Wangen, ein Hauch von teurem Aftershave, dreiteiliger Anzug. Lediglich sein Oberpfälzer Bauernschädel störte das Bild. Gina in Cargohose, Sneakers und Fleeceshirt glich dagegen dem Model einer Trekkingzeitschrift. Sie schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffee ein. »Guten Morgen, Tino. Auch einen?«
    »Gerne.«
    Dr. Weidenbach telefonierte, Frank Buchholz reckte sich gähnend. Dühnfort setzte sich und griff nach dem Kaffeebecher, den Gina ihm hinschob. Sie hatte bereits Milch hineingetan. »Danke.« Mit einem Schluck trank er den Becher halbleer. Danach fühlte er sich besser. Dr. Weidenbachbeendete das Gespräch. Alle Augen waren nun auf Dühnfort gerichtet.
    Er lehnte sich zurück, fasste kurz die Fakten zusammen und legte dann dar, wie er sich den Tatablauf vorstellte. »Ich gehe davon aus, dass Wolfram Eberhard Heckeroth am Montag letzter Woche

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