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In weißer Stille

In weißer Stille

Titel: In weißer Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Löhnig
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willensstarken Zügen, ein herrischer Blick, eine zu groß geratene Nase. Das waren die Merkmale, die Dühnfort registrierte. Neben Heckeroth stand eine Frau. Vermutlich die verstorbene Gattin. Die Geste, mit der er ihre Schulter umfasste, wirkte besitzergreifend. Aus einem anderen Rahmen lachten Dühnfort zwei Jungen entgegen. Sommersprossige Zwillinge in Sporttrikots. Daneben eine Fotografie von Albert und seiner Frau. Das letzte Bild zeigte eine junge Frau. Sie trug ein dunkles Kostüm mit weißer Bluse und hatte die gleichen graublauen Augen wie Heckeroth senior. Vermutlich war das Caroline. Der Einzige, der auf diesem Familienaltar fehlte, war Bertram.
    Dühnfort hörte Gina in der Küche rumoren. Er ging weiter ins Arbeitszimmer. Bücherregale reichten bis zur Decke, ein wuchtiger Schreibtisch befand sich mitten im Raum. Der moderne PC, der darauf stand, wirkte seltsam fehl am Platz. Auf einem Tisch am Fenster befand sich ein Schachbrett. Die Figuren waren aufgestellt, diePartie aber nicht begonnen. Im Gästezimmer öffnete Dühnfort den Kleiderschrank. In der einen Hälfte standen Schachteln mit Christbaumschmuck und ausrangierten Gläsern. Die andere Hälfte war leer. Den Raum nebenan musste Heckeroths Frau bewohnt haben, im Schrank hingen ihre Sachen. Eine gerahmte Fotografie stand auf dem Sekretär. Sie zeigte einen jungen, bärtigen Mann mit einem verwegenen Lächeln. Während man bei Albert nicht sagen konnte, ob er mehr nach Vater oder Mutter kam, war es hier eindeutig. Das musste Bertram sein, er hatte eine starke Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Ein kleineres Bild von ihm befand sich auf dem Nachttisch. Auf dieser Aufnahme war er älter. Der Bart war verschwunden, das Haar lichter, eine beginnende Glatze zeichnete sich ab. Die Verwegenheit war aus dem Gesicht gewichen und hatte einem verschlossenen Ausdruck Platz gemacht.
    Dühnfort verließ den Raum und ging den Flur entlang zum letzten Zimmer. Ein Doppelbett aus Kirschholz mit passenden Nachtkästchen, ein großer Kleiderschrank, eine Kommode. Heckeroths Schlafzimmer.
    Ein Hauch von Lavendel verbreitete sich in der Luft, als Dühnfort den Schrank öffnete. Hemden und Anzüge, ein Sommermantel und ein Smoking hingen ordentlich auf Bügeln. In den oberen Kommodenschubladen lagen Unterwäsche und Socken, Poloshirts und Pullover. In der untersten befanden sich mehrere Schuhkartons. Als Dühnfort sie beiseiteschob, kam ein Fotoalbum zum Vorschein. Er nahm es heraus, setzte sich damit auf die Bettkante und begann zu blättern.
    Das Gefühl, sich etwas Wesentlichem zu nähern, stellte sich abrupt ein. Das Album enthielt etwa vierzig Fotografien. Die ersten Bilder waren schwarzweiß mit einemStich ins Braune. Im Hintergrund erkannte Dühnfort eine Liege, wie sie in Behandlungszimmern üblich waren. Es folgten noch einige Schwarzweißaufnahmen, dann Farbfotografien. Teils waren sie ausgeblichen, teils hatten sie einen Stich ins Gelbe bekommen. Auch diese schienen in einer Praxis aufgenommen zu sein. Ein Metallschrank mit Glastüren war auf einigen zu erkennen. Auf einem anderen ragte ein Rock, der über einem Stuhl hing, ins Bild. Sehr kurz und mit Popartmuster. Sechzigerjahre. Dann Polaroids. Diese Erfindung musste Heckeroth begrüßt haben. Bilder, die sich von alleine entwickelten. Er war dieser Art von Fotografie treu geblieben, allerdings wechselten die Räume. Plötzlich herrschte keine Praxisatmosphäre mehr. Es schienen Hotelzimmer zu sein.
    Alle Bilder zeigten in Variationen das gleiche Motiv. Eine nackte, gefesselte Frau. Dühnfort blickte auf und atmete durch. Dann studierte er die Gesichter.
    Manche blickten kokett in die Kamera, manche betreten, als ob sie sich schämten. Einige sahen zu Boden, bei zweien glaubte Dühnfort, dass sie entweder betrunken waren oder unter der Einwirkung von Drogen standen. Einige lagen auf der Liege, die Gesichter abgewandt. Und alle waren vom gleichen Typ: klein, mollig, dunkelhaarig und sehr jung.
    * * *
    Sie schaltete den Geschirrspüler ein, holte dann den Skizzenblock hervor und setzte sich an den Küchentisch. Lächerlich, dass sie sich gewundert hatte. Auch wenn Albert seinen Bruder nicht ausstehen konnte und seit über einem Jahr kaum ein Wort mit ihm gesprochen hatte, hätte sie doch wissen müssen, dass er in der Öffentlichkeit nie schlecht über ihn reden würde. Der Anscheinmusste gewahrt werden. Die Familie Heckeroth wohnte seit dreißig Jahren im Viertel, da war die Fassade wichtig. Was sich in der

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