INAGI - Kristalladern
wegen des Umstandes, dass sie sich bewegen musste, jammern und ächzen. Das Erdgeschoss des Hauses bestand nur aus einem einzigen Raum. Die dunklen Holzdielen waren blank gescheuert und von vielen Füßen durchgetreten. Das Haus hatte bereits einige Generationen ihrer Familie beherbergt –genauer gesagt, von Kenjins Familie. Die gesamte Mitte des Raumes wurde von der Kochstelle eingenommen, einer Vertiefung aus gestampftem Lehm, aus der der gemauerte Herd ragte, der während der kühlen Jahreszeit auch die einzige Wärmequelle darstellte. Rings um die Senke verlief eine knöchelhohe hölzerne Bank, auf der sich mehrere dicke, aus Binsen geflochtene Matten verteilten. Die Bank war Sitzgelegenheit und Essplatz zugleich. Über der Feuerstelle hing an einem langen Haken der große eiserne Kochtopf. Daneben baumelten Sträußchen getrockneter Kräuter vom Deckenbalken.
Kenjin zündete die Holzscheite an und ließ sich auf seine Matte fallen, die Füße in die Herdgrube gestreckt. Kanhiro und sein Vater taten es ihm gleich. Ishira füllte unterdessen den Topf mit Wasser aus dem großen Holzfass, das an der hinteren Wand stand, und hing ihn übers Feuer. Dann holte sie aus der winzigen Vorratskammer Asagi, Suugiknollen und die dunkle Paste aus Fisch und Kräutern, die sie zum Würzen verwendete, und breitete alles auf dem flachen Stein vor der Kochstelle aus. Sobald das Wasser im Topf kochte, warf sie eine Handvoll getrockneter Eboblätter und -blüten in die große Teekanne und goss sie mit heißem Wasser auf. Sofort stieg aus der Kanne ein herb-aromatischer Duft auf.
»Jetzt hast du die Spannung lange genug angeheizt, Koru« sagte Kanhiro, während er den Tee einschenkte. »Was wollten die Gohari denn nun von euch?«
Togawas gutmütiges Gesicht legte sich in Falten. »Sie haben uns in der Tat wegen der Kristallenergie befragt«, bestätigte er. »Die Telani wollten unter anderem wissen, wann uns zum ersten Mal aufgefallen ist, das die Energie schwächer wird, und wie genau es sich bemerkbar macht. Ich frage mich nur, was sie sich davon versprechen. Was wir ihnen gesagt haben, hätten sie genauso gut in den Berichten der Reshiri nachlesen können.«
»Das werden sie wahrscheinlich außerdem getan haben«, meinte sein Sohn. »Aber offenbar wollten sie ganz sicher gehen.«
»Sie müssen ziemlich besorgt sein«, murmelte Ishira.
»Nun, kein Wunder«, erwiderte Togawa. »Seit letztem Jahr hat der Kristall so sichtbar an Leuchtkraft eingebüßt, dass er für die Gohari mit Sicherheit an Wert verloren hat. Wahrscheinlich müssen sie die Kristallstücke in ihren Häusern jetzt öfter austauschen.«
Kanhiro konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. »Und wie es scheint, haben sie keine Ahnung, was sie dagegen unternehmen sollen.«
»Wenn die Energie versiegt, müssen die Gohari unsere Minen vielleicht bald schließen«, frohlockte Kenjin.
»Und dann?« dämpfte Ishira seine Fantasie. »Glaubst du, sie finden für uns keine andere Arbeit?«
Kanhiro wurde umgehend wieder ernst. »Das stimmt leider. Es gibt noch genügend andere Minen, auf die uns die Gohari verteilen können. Oder sie lassen uns irgendwo neue Stollen graben.«
Ishira hielt im Gemüseschneiden inne. Die Vorstellung, dass sie eines Tages ihr Heimattal verlassen müsste und womöglich von Kanhiro und seinem Vater getrennt würde, verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen.
Togawa sah sie an, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Nun, bis dahin fließt noch viel Wasser den Ashikiri hinunter«, sagte er ruhig, »und die Zukunft kennen allein die Götter.«
Kapitel II – Angriff der Amanori
»SPIELST DU mit mir eine Runde Kushiri , Nira?« Kenjin grinste Ishira herausfordernd an. »Wenn du mich schlägst, hole ich ein Zwölft lang das Wasser vom Fluss und kehre die Dielen«, bot er großzügig an. »Wenn ich gewinne, muss ich dafür ein Zwölft lang gar nicht bei der Hausarbeit helfen.«
Die Keiko-Rennen waren vorüber und es wurde langsam dämmrig. Bald würde am westlichen Himmel der Mond aufgehen. Einige Inagiri standen noch in Gruppen beisammen und diskutierten die Wettergebnisse, andere hatten sich bereits auf den Weg zu ihren Häusern gemacht. Gewöhnlich konnte Ishiras Bruder nach den Rennen nicht schnell genug zum Mondwendeessen kommen, aber sein Keiko hatte gegen Seiichis gleich zweimal gewonnen und nun wollte er seine Glückssträhne ausnutzen.
Sie schmunzelte. »Meinetwegen.«
Beim Kushiri ging es darum, aus Stroh geflochtene
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