Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
unkoordiniert winkenden, uniformierten Wächtern auf den engen, überfüllten Parkplatz eingewiesen zu werden. Innen trotzen Rolltreppen den schwankenden Spannungen und ständigen Stromausfällen der Provinzmetropole. Unter eleganten Strahlerreihen und vom Jugendstil inspirierter Deckenarchitektur weiß ich nicht, wonach ich eigentlich suche. Eigentlich braucht man bei einer Außentemperatur von 22 bis 29 Grad so gut wie gar nichts.
Mittags lese ich, eingepfercht in die enge Holzbox eines Internetcafés, meine letzten geschäftlichen Nachrichten, bevor ich den Abwesenheitsassistenten aktiviere. In der mit einem gelbgrünen Vorhang abgetrennten Telefonzelle hängt eine Liste der Vorwahlen von Frankfurt bis Manchester. Ich schreibe eine E-Mail an meine Frau, in der ich noch einmal meine Route für die nächsten zwei Wochen skizziere, und versuche dabei, nicht über die möglichen Hinterlassenschaften der Vornutzer auf den grauen Sitzkissen nachzudenken, die auf der Suchleiste des Browsers Begriffe wie » Indian Hot Saree Pictures « und » Indian Big Tits « gesucht und wahrscheinlich auch gefunden haben.
William Lambton dürfte sich ähnlich eingeengt gefühlt haben in seinem provisorischen Observatorium in Tirunelveli; es hatte nur unwesentlich größere Ausmaße als meine Holzbox. Dabei war er es von Haus aus gewöhnt, sich zu beschränken. Lambton wurde um 1753 auf einer verschuldeten Farm in der
Grafschaft Yorkshire geboren. Die Familie trieb seine Ausbildung voran, damit er sie bald unterstützen konnte. Der junge William bewies ein erstaunliches Talent für Mathematik und bekam so einen Platz an einer höheren Schule. 1781 wurde Lambton Fähnrich bei der britischen Infanterie. Er diente im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und vermaß nach dessen Ende die Grenze zwischen Britisch-Kanada und den Vereinigten Staaten. 1793 wurde er zum Leutnant befördert. Drei Jahre später reiste er nach Indien, um in den Feldzügen der Ostindischen Kompanie gegen den »Tiger von Mysore«, Herrscher eines unabhängigen südindischen Staates, zu kämpfen. Am Ende seines dritten Lebensjahrzehnts war Lambton der Beschreibung nach ein stämmiger Mann mit rötlichem, schon leicht schütterem Haar und weichen Gesichtszügen, ungeübt im gesellschaftlichen Umgang nach den Jahren im Krieg und in der nordamerikanischen Wildnis. Sein Lebensstil galt als bescheiden.
Nachdem die Briten Mysore 1799 endgültig unterworfen hatten, schickten sie Vermessungstrupps in die Teakwälder und Hochländer des neu gewonnenen Territoriums. Lambton hatte sich im Krieg verdient gemacht und Kontakte zu den Vertretern der Ostindien-Kompanie aufgebaut. Jetzt kommt er auf eine Idee: Er schlägt vor, nicht nur Mysore exakt zu vermessen, sondern möglichst weite Strecken des gesamten indischen Subkontinents. Zunächst könnte, so schreibt er, »die korrekte Lage der wichtigsten geografischen Punkte (innerhalb von Mysore) nach korrekten mathematischen Prinzipien« bestimmt werden. Auf diese Weise lasse sich auch exakt die Breite des neu gewonnenen Territoriums zwischen Arabischem Meer und Golf von Bengalen benennen. Vermessungsdreiecke ließen sich dann »fast unbegrenzt in jede beliebige Richtung fortführen«.
Lambton argumentiert pragmatisch, um Mittel für das gigantische Projekt einzuwerben, das die Kassen der vor allem im Baumwollgeschäft aktiven Ostindien-Kompanie über die kommenden sechs Jahrzehnte beuteln wird. Die Expedition sei wichtig für die Ermittlung der exakten Ausmaße der britischen Gebiete in Indien, erklärt er den Behörden in London. Landvermessungen in den indischen Territorien, von denen manche direkt unter der Herrschaft der Krone stehen, andere nur per Vertrag angeschlossen sind, ließen sich dadurch enorm beschleunigen. Lambton weiß sehr genau, wie interessant solche Aufzeichnungen für die politischen Ziele der Ostindien-Kompanie sein könnten.
In Wahrheit aber geht es ihm um etwas ganz anderes. Um höchst komplizierte Fragen der Geodäsie, der Wissenschaft von der Erforschung der Oberflächengestalt der Erde. Lambton will das »Desideratum« erfüllen, »durch direkte Messung die Größe und Gestalt der Erde zu bestimmen«, wie er schreibt. Bis zu diesem Zeitpunkt haben europäische Geodäten vor allem die nördlichen Breiten erforscht; die längste vermessene Strecke reicht von Großbritannien bis nach Nordspanien. Lambton aber will nun erstmals die Erdkrümmung in tropischen Breiten genau bestimmen. Er will
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