Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
«. Ein wenig verlegen hält er mir einen Stift und einen Zettel hin. Nicht, um die Rechnung zu unterschreiben; er will ein Autogramm von mir haben. Ich signiere mit Hape Kerkeling und lausche die halbe Nacht seinen Karten spielenden Kollegen in den hallenden Korridoren.
Nördlich von Sankarankovil rücken die Berge näher, die östlichen Ausläufer der Western Ghats. Steil und unvermittelt ragen sie aus der Ebene. Ich marschiere in Tamils Baumwollgürtel hinein. Säumten tief im Süden Windmühlen meinen
Weg, so sind es jetzt Spinnereien. Die Fabriken sind umgeben von kilometerlangen, meterhohen Mauern, bewehrt mit Stacheldraht und Vogelscheuchen aus Stroh, die als Köpfe knallbunte Masken der die Zunge herausstreckenden Göttin Kali tragen. Hinter gusseisernen Toren, in deren Gitter goldene Elefanten und Pfaue gearbeitet sind, stapeln sich weiße Ballen in den verhangenen Himmel. In Wachhäuschen schnarchen schnauzbärtige Uniformträger.
Ich werde von einem knallroten Schriftzug begleitet: »Ramraj Cotton« ist mit der Hand auf die Wände der Bauernkaten und Lehmhütten lackiert, der Schriftzug prangt von den Rolltoren der Geschäfte und den Mauern der Fabriken. Daneben ist zumeist ein blauer Herrenslip gemalt, flankiert von ein paar Boxershorts in Dunkelbraun und einem ordinären weißen Feinripp-Unterhemd: ram heißt »Gott«, raj heißt »König«. Klare Herrschaftsverhältnisse.
Das Wandern in der Ebene von Madurai ist anstrengend, ein wohlkalkulierter Kraftakt, ein ernsthaftes sportliches Unterfangen. Jeden Morgen um vier Uhr vibriert mein Handy. Ich stopfe mir ein halbes Dutzend am Vorabend erstandene Bananen, Kekse oder andere Süßigkeiten in den Mund, trinke einen Liter Wasser und stürze in die Dunkelheit, um möglichst weit zu kommen, bevor die Sonne um sieben Uhr schlagartig aufgeht. Das Land ist widerborstig, aber mein Körper gewöhnt sich an Hitze und Feuchtigkeit. Die Wunden zwischen meinen Beinen sind rasch verschwunden, die Hitzepickel vertrocknet. Und ich kann wieder richtig sehen. Ich setze meine Brille ab und staune in die tropische Savanne. Ich bin nicht mehr blind. Meine PC-verdorbenen Augen, die zuletzt kaum den Urlaubskalender an der Wand entziffern konnten, spähen nun brillenlos über die meist baumlosen Ebenen, folgen dem Flug einer Steppenweihe, entdecken einen Hasen im Gebüsch. Von
Tag zu Tag kann ich meine Waden wachsen sehen. Meine Unterarme sind sonnenverbrannt, mein Haar wird langsam blond, jedenfalls da, wo es nicht schon weiß ist.
Aber die Hunde machen mir zu schaffen. Die schlanken, hüfthohen Straßenköter schleichen mit der Nase auf dem Boden hinter mir her, sobald sie mich auf der Straße kommen hören, sie knurren und bellen, wenn ich mich umdrehe. Ich bücke mich und tue so, als wenn ich Steine nach ihnen werfe. Aber das hält sie nur auf Distanz. Ein Rudel jagt mich über eine verlassene Landstraße, wo ein Kuhhirte es mir mit barschen Rufen vom Leib hält. Ein anderes scheucht mich wie ein Huhn durch ein Dorf, bevor ein schmerbäuchiger Alter sich von seiner Steinbank unter einem Dornbusch rollt und die Viecher mit einer nachlässigen Drohgebärde in die Steppe verscheucht. Seit ich als Sechsjähriger bei einem Sommerurlaub in Dänemark von einer jungen Stute eine halbe Stunde lang über eine Koppel gejagt wurde, leide ich unter einer Zoophobie, die alle paar Jahre wieder ausbricht. Ich beschließe, dass ich eine Waffe gegen Südindiens animalische Rohheit brauche. Zumal ich versäumt habe, mich gegen Tollwut zu impfen.
Irgendwo auf der Landstraße bitte ich einen Arbeiter, der vor einer Zementfabrik Tamarindenbüsche rodet, mir einen Stock zu schneiden. Er entfernt die Dornen eines kräftigen Astes mit seinem krummen Dolch. Erst will er achtzig Rupien dafür haben, dann dreißig. Ich lache aus vollem Herzen und gebe ihm den Stock zurück. Er drückt ihn mir wieder in die Hand. Ich halte ihm zwanzig Rupien hin. Da grinst der Arbeiter durch seinen schlohweißen Vollbart und winkt ab.
Mit dem Stock in der Hand durchquere ich die Dörfer und wenigen Städte. Die Hunde halten jetzt deutlich mehr Distanz, aber in den Zügen der Passanten lese ich Verwunderung
und vielleicht eine Spur von Angst. An einem Nachmittag entdecke ich kurz vor Madurai in einem kleinen Ort einen »Wine Shop«. Er ist eingeklemmt zwischen einem Sägewerk und einem Recyclinghof, vor dem sich haushoch Schuhe, Plastiktüten, Kleider und Gummireifen stapeln. Ein massiger Mann bietet mir ein
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