Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
herausfinden, ob die Form der Erde eher der einer Pampelmuse oder der eines persischen Plattpfirsichs gleicht. Und das auf einer Strecke von Rekordlänge.
Bereits im April 1802 kann Lambton den Grundstein für sein Projekt legen: In der Stadt Chennai an Indiens Südostküste vermisst er mit einer dreißig Meter langen Stahlkette eine zwölf Kilometer lange Grundlinie. 1803 bis 1805 treiben die Geodäten ihre Dreiecksmessungen von Chennai aus zunächst quer über den Subkontinent westwärts bis nach Mangalore am Arabischen Meer voran. Von der Mitte dieses Vermessungsstrangs
aus, der Stadt Bangalore, beginnen sie schließlich sich entlang des 78. Längengrades vorzuarbeiten, zuerst in Richtung Norden bis an die Grenzen der Gebiete des Nizams von Hyderabad und dann nach Süden, Kanyakumari entgegen.
Um das Jahr 1809 herum reist Lambton nach Tirunelveli. Mit einem »Sektor«, einem Instrument zur Messung der Höhenwinkel, hockt er sich in ein enges Zelt. Siebenundzwanzig Nächte lang späht er in den dunklen Himmel und notiert die Bahnen, in denen die Sterne und Planeten den Zenit über der heutigen Provinzhauptstadt queren. Mit geübtem Griff öffnet Lambton Teakholzkisten, um seine Beobachtungs- und Messgeräte aufzubauen. Im Schein einer schwachen Lampe notiert er mit feiner Handschrift seine Beobachtungen.
Lambton soll in den kommenden Jahrzehnten bekannt werden für seine Ausdauer und Genauigkeit. Zweihundert Einzelmessungen nimmt er in Tirunelveli vor, um die Position seines Standortes exakt zu berechnen. Die Kalkulationen sind ein wichtiger Baustein für die gesamtindische Nord-Süd-Triangulierung, für das Netz aus Dreiecken, das er und sein vielleicht zu Unrecht viel bekannterer Nachfolger George Everest von Süd nach Nord über den 78. Längengrad spannen werden.
Schon am Nachmittag fühle ich mich deutlich besser. Die Medizin hat angeschlagen. Die Wunden hören auf zu nässen. Die Hitzepickel jucken nicht mehr. In der Altstadt von Tirunelveli mache ich einen Spaziergang durch den Nellaiappar-Tempel. Er wirkt wie eine Stadt in der Stadt. Außenherum drängt sich das menschliche Chaos, aber hinter den sechs Meter hohen, mit gelben Blumenornamenten beschlagenen Holztüren herrscht Ruhe. Ich wandele durch die drei Stockwerke hohen Kreuzgänge, die die massiven Steinplatten der
Tempeldecke halten. In den Gärten um das zentrale Heiligtum schmücken Gläubige die Schreine des elefantenköpfigen Wohlstandsgottes Ganesha mit weißen Blumenkränzen. Unter ausladenden Bäumen plaudern die Besucher auf Bänken, lesen und dösen. Nur das mechanische Quietschen der Handpumpen, mit deren Wasser sich Heerscharen von Priestern in schwarzen Lendenschurzen benetzen, dringt durch die Stille. Und ein meditativer Gesang: » Om Nama Shiva «, ein Lobpreis für den Zerstörergott Shiva, der im Inneren des Tempels angestimmt wird. Dort ist es unerträglich heiß. Ein kleiner Mönch mit Perlen im Haar streichelt einem Nandi, dem Stier, auf dem der Gott reitet, den Rücken. Pilger werfen sich vor der Statue nieder, ein langhaariger Brahmane gießt literweise Milch über die gehörnte Stirn des mythischen Reittiers, ein Jahrtausende altes Ritual in 1300 Jahre alten Mauern. Zwei Musikanten mit einer Art Oboe und einer röhrenförmigen Trommel stimmen eine Musik an, die archaisch klingt und gleichzeitig an Free Jazz erinnert. Eindringlich, aber gleichzeitig unaufdringlich.
Im Taxi fahre ich zurück ins Hotel. Am zweiten Abend in Tirunelveli gewinne ich das Haus lieb. Ich halte ein Schwätzchen mit der jungen Dame an der Rezeption, die mir mit Blick auf den leichten Niesel über der Ausfallstraße hinter den Glasscheiben des Foyers versichert, dass es um diese Jahreszeit in Tirunelveli gar nicht regnen kann. Nie. Ich beschließe, dass meine Angst vor Gewitter und Dauerregen unbegründet ist, und diniere als einziger Gast im unterirdischen Speisezimmer an einem wackeligen Plastiktisch. In meinem Zimmer trinke ich zwei lauwarme Bier, betrachte meine Wunden und stelle fest, dass sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden fast völlig verschwunden sind, als der Boy an der Holztür klingelt, einen kokelnden Moskitokringel in der Hand. Er platziert ihn unter dem maroden Fenster. Jetzt erst merke ich, was in dem
Zimmer so riecht: Die rauchende Insektenabwehr ist auch für die menschliche Sinneswahrnehmung unangenehm. Was ich zwei Tage lang als lästigen Geruch verzeichnet habe, war eigentlich der etwas penetrante Duft
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