Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
kühles Bier an. Vor dem Holztresen lungert die übliche Traube zittriger Gestalten in der senkrechten Mittagssonne herum, gierige Blicke auf vergitterte Regale voller Schnapsflachen gerichtet. Keiner hat ein Getränk in der Hand, alle warten darauf, dass irgendetwas abfällt. Ich zögere, bevor ich eine kleine Flasche Rum ordere. »Den besten, bitte.« Ich setze den Rucksack ab, fülle den Schnaps, Marke Mc Dowell’s, vor sechs blutunterlaufenen Augenpaaren in meinen metallenen Flachmann und bezahle.
Doch als ich die ersten paar Hundert Meter auf dem Asphalt der Landstraße zurückgelegt habe, fällt mir auf, dass etwas fehlt: Meine kleine Digitalkamera ist weg. Sie sitzt nicht mehr auf meinem Hüftgurt. Ich nehme den Rucksack ab. Ich kontrolliere die Seitentaschen, die Deckeltasche, das Hauptfach. Ich renne zurück zum Schnapsladen. Jemand muss die Kameratasche vom offenen Hüftgurt gezogen haben. Der korpulente Pullunderträger sitzt hinter dem Tresen, seelenruhig zählt er aufgerollte Geldscheine. Keiner der Männer, die eben vor dem Laden herumlungerten, ist noch da.
»Nein Sir, ich habe nichts gesehen. Keine Kamera. Und niemanden, der etwas gestohlen hat. Keine Ahnung wo meine Kunden hin sind.«
Ich blicke ihm tief in die Augen. Ich mustere ihn ungeniert von oben bis unten. »Ich hole die Polizei«, sage ich. »Ich erstatte Anzeige. Ich komme wieder. Wir finden den Dieb.« Aber nichts davon mache ich wahr.
Nach knapp einer Woche erreiche ich Madurai, eine kompakte Eine-Millionen-Stadt mit gepflegten Vororten und einer hektischen City. Der Mann an der Rezeption des Hotels wirft einen skeptischen Blick auf meine verdreckte Hose und das durchgeschwitzte Hemd, bevor ich die Kreditkarte zücke. Das Zimmer hat ein getöntes Panoramafenster und automatisch verschließbare Vorhänge. Ich mache einen Tag Pause, friere unter der schwer zu regulierenden Klimaanlage und irre nach einem ausgiebigen Mittagsschlaf durch die Innenstadt, die in konzentrischen Kreisen rund um den Meenakshi Sundareswara-Tempel angelegt ist, um eine neue Kamera zu kaufen. In zahllosen Fotostudios offerieren mir warmherzige, rundliche Damen analoge Sofortbildmodelle, bevor ich in einem Souterrainladen das Gerät eines japanischen Herstellers erstehe.
Am Abend beobachte ich im Hotel unter den Lichterketten des Dachgartenrestaurants die Touristen an den Nachbartischen, die unbekümmert literweise Bier zu Spaghetti Bolognese und Pizza zechen. Die Szene wirkt wie ein Gruß aus einer fernen Welt.
Baumwoll-Blues
Nördlich von Madurai fädele ich mich wieder auf dem National Highway 7 ein, jener groben Schneise, die das ländliche Tamil Nadu in der Mitte zerschneidet. Die fast den ganzen Subkontinent überspannt, bis hinauf nach Bangalore, Hyderabad und Nagpur, in die Großstädte, die noch vor mir liegen. Die alte Landstraße wird sechsspurig ausgebaut, sie ist Teil des National Highways Development Projects, das die bei internationalen Investoren berüchtigte, marode Verkehrsinfrastruktur Indiens in eine dynamische Zukunft katapultieren soll.
So wie meine Route durch Indien weitgehend der meiner europäischen Vorgänger zweihundert Jahre zuvor entspricht, wird sie auch parallel und nicht selten auf dem National Highway 7 selbst verlaufen. Legt man eine Karte des Highways Development Projects mit seinen Ausläufern an das Arabische Meer im Westen und den Golf von Bengalen im Osten neben die Vermessungskarten des Great Trigonometrical Survey, so ist die Übereinstimmung frappierend: Wie das Rückgrat eines achtbeinigen Tieres, von dem sich auf der Höhe von Chennai, Mumbai, Bhopal und Delhi je zwei Gliedmaßen nach links und rechts ausbreiten, liegen beide Streckennetze auf dem indischen Subkontinent. Die Erschließung des indischen Herzlandes wird heute größtenteils auf jenen Routen vorangetrieben, die einst die britischen Eroberer vermaßen, um Baumwolle, Gewürze, Salpeter und Tee des unterworfenen Territoriums auszubeuten.
Und sie hat vergleichbare finanzielle Dimensionen. Einundsiebzig Milliarden US-Dollar sind für das Highways Development Project veranschlagt. Der Great Trigonemtrical Survey verschlang allein zwischen 1800 und 1824 stolze 250 000 Britische Pfund, nach heutiger Rechnung das Hundertfache. Und kostete mehr Menschenleben als mancher Krieg.
Am Abend des ersten Tages jenseits von Madurai queren singende Pilger meinen Weg. Eine endlose Kette von Jungen und Alten, Männern und Frauen, Gebetsketten um den Hals und Trommeln in
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