Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
gedämpftes Licht, surreale Farben. Wie an einem endlosen norddeutschen Sommerabend. In der trüben Luft bin ich unsichtbar. Aber hier, auf dem Weg in die alpinen internationalen Urlaubsdestinationen interessiert sich ohnehin keiner für mich. Hier falle ich überhaupt nicht mehr auf.
Mittags wandere ich neben einem Alten mit einem Plastikeimer an einem Stock über der Schulter, darin trägt er nichts als einen hin- und herrollenden Metallbecher. »Falls ich auf der Reise Durst habe«, erklärt er. Er hat seinen Sohn in einem Dorf zehn Kilometer weiter südlich besucht. Wir überqueren einen Fluss, der aussieht wie eine ausgedehnte Pfütze.
»Ist das die Grenze zu Uttar Khand?«, frage ich. Ich kann es nicht erwarten, den nördlichsten Bundesstaat auf meiner Reise zu erreichen; seine Grenze wird laut Karte von einem Fluss markiert.
»Nein«, sagt der Mann und lacht. »Uttar Khand liegt doch in den Bergen.«
Erst am Nachmittag entdecke ich eine feine Spur alpiner Geografie, ein Flussbett voller rund gewaschener weißer Steine nördlich der Stadt Bihargarh. Aber dann tauche ich erst einmal in einen Dschungel ein. Das Unterholz in den Ausläufern des Rajaji National-Parks ist dicht und struppig. Wüster Bewuchs aus entlaubten und beblätterten Bäumen bildet eine braungrüne Wand beidseits der Trasse. Blaue Schilder hängen in den Strommasten. »Habt Mitgefühl mit den Kreaturen des Waldes«, steht darauf. »Bitte hupt so wenig wie möglich«. Und tatsächlich ist es plötzlich ruhiger geworden. Mit ungewöhnlich gleichmäßigem Geräuschpegel passieren mich Pkw und Motorräder. Selbst die Lkw-Fahrer betätigen vor den Kurven ihre Hupen nicht. Aber ich entdecke weder Tiger noch Elefanten.
Kurz vor dem Ort Mohand spuckt mich der Dschungel wieder aus. Der Himmel reißt auf. Und ich blicke auf die ersten Berge. Sandige Finger und Kuppen, vom Wind geschliffene Formationen. Steile Grate, in deren trockenen Boden sich zersauste Bäume krallen. Aber die Erhebungen sind nur wenige Hundert Meter hoch, die Siwalik-Berge sind ein niedriges Vorgebirge des Himalaya, mehr nicht. Keine rauschenden Bäche, keine saftigen Almen. Von verschneiten Gipfeln ganz zu schweigen. Aber enttäuscht bin ich trotzdem nicht. Sondern überglücklich. Ich fühle mich, als käme ich endlich nach Hause. Als wäre das, wider alle Zweifel, in Indien möglich. Singend wandere ich die Serpentinen hinauf. Gemächlich laufe ich durch den Abend. Morgen werde ich den Himalaya sehen.
Über der Straße wächst feiner Bambus wie grobes Moos von triefenden, schwarzen Felswänden. Unter mir öffnet sich eine breite Schlucht, darin ein fast trockener Flusslauf. Büffel weiden in dürrem Grasland. Im Wald am Rand des Canyons verstecken sich kleine Dörfer. Die Häuser sind rund und aus unbehauenen Knüppeln errichtet. Die Dächer sind Kegel aus Stroh. Ich erspähe zwei Männer mit karierten Karottenhosen und weißen Kappen zwischen den Bäumen. Das Klingeln einer Glocke dringt hinauf, vermutlich von einem irgendwo dort unten weidenden Pferd.
Es ist schwer, in den Serpentinen über der Schlucht einen ebenen Flecken zum Schlafen zu finden. Nach einer Stunde Suche klettere ich schließlich eine lose Steinmauer hinab, die die Straße begrenzt. Zwischen widerspenstigen Büschen finde ich im Gras einen Abschnitt, der gerade groß genug ist für mich und mein Gepäck. Es wird rasch kalt, als ich mich in meinen Schlafsack rolle.
Ich habe mein Ziel fast erreicht. Knapp zweihundert Jahre nach George Everest habe ich den gesamten Subkontinent durchquert und vermessen.
Für Everests Expedition waren die Siwalik-Berge ein nicht unerhebliches Hindernis. 1832 versuchen die Briten in den Bergen erste Messpositionen zu markieren. Für die Peilungen benötigen sie zwei Standorte, die wechselseitig einsehbar sind. Sechs Positionen werden zu diesem Zweck untersucht und wieder verworfen. Als der siebte und achte Standort sich ebenfalls als nicht funktional erweisen, entscheiden sich die Vermesser ganz einfach dazu, Indiens Geografie zu manipulieren: Mit Brechstangen und Vorschlaghämmern bearbeiten sie einen der lockeren Gipfel, sechs Meter Bergspitze tragen sie ab. Dann erst ist die Sicht frei.
Im Jahr 1833 zieht Everest in sein Anwesen in Dehra Dun ein. Er lässt ein Observatorium, ein Zeichenbüro, Werkstätten und riesige Lagerräume einrichten. In feiner kolonialer Gesellschaft führt er dort das Leben eines hochverdienten wissenschaftlichen Genies, das für seine
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