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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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dreht das Bild um. Handschriftlich hat der vietnamesische Revolutionär darauf geschrieben: »Meiner geliebten Nichte«.
    Ich erzähle ihr, dass ich der Speerspitze des hinduistischen Nationalismus einen Besuch abgestattet habe. Dass ich in Delhi bei einem Sakha des Rashtriya Swayamsevak Sangh war. Sie blickt mich zweifelnd an. »Was der RSS verbreitet, ist kompletter Unsinn. Indien ist das Land der Hindus, aber kein hinduistisches Land. Wir sind eine große, integrative Gesellschaft. Die Kraft des Hinduismus ist seine Integrativität. Ob Moguln oder Türken, sie alle wurden sehr schnell Inder, sie lernten die Sprachen, die Kultur, das Essen. Der Hinduismus an sich ist nicht gefährlich, seine falsche Interpretation ist es. Wir haben der Welt so viel gegeben. Die Upanishaden, die Bhagavadgita. Die Hindunationalisten streuen Verbitterung in diese Tradition. Aber sie werden auch maßlos überschätzt. Wir haben ganz andere Sorgen.«
    Das Telefon klingelt. Ein Diener ruft. Meine Gastgeberin entschuldigt sich. Ich höre, wie sie im Nebenzimmer mit
einem Banker verhandelt. Als sie sich wieder zu mir auf das Sofa setzt, berichtet sie, dass sie kürzlich in Berlin war, die Straße Unter den Linden habe sie besonders beeindruckt. Dass eine junge Frau ihr einen Blumenstrauß in die Hand drückte und ihr erzählte, wie sie als Vierzehnjährige die Wiedervereinigung erlebt habe. »Sie hat mir alles erklärt, als wir dort entlanggingen. Berlin ist so eine schöne Stadt.«
    Bevor ich gehe, fragt die alte Dame, warum ich über Indien schreibe. Und sie ist eine der wenigen Einheimischen, die auf Anhieb versteht, wieso ich zu Fuß durch das Land laufe. Noch viel besser versteht sie mich aber, als ich ihr erkläre, dass es mir auf meiner Wanderung nur selten gelungen ist, ihre faszinierende Heimat wirklich zu lieben. Dass ich wie vor meiner Reise auch jetzt noch ständig schwanke zwischen Begeisterung und Abscheu. Dass es mir auf dem 78. Längengrad nicht, wie erhofft, gelungen ist, mein ambivalentes Verhältnis zu Indien zu ordnen. »Da geht es Ihnen wie vielen Einheimischen«, sagt sie. »Dieses Land hat einfach zu viele Gesichter.«
    Ein Diener tritt ein. Sie bittet ihn, mich mitzunehmen, wenn er zum Markt fährt, um für das Abendbrot einzukaufen. Er solle nicht vergessen Ingwer und Zwiebeln mitzubringen. Dehra Dun sei eine schöne Stadt, sagt Nayantara Sahgal. »Weil jeder hier jeden kennt. Weil es hier alles gibt, dieselben Versorgungsmöglichkeiten wie in einer Großstadt. Weil alle friedlich zusammenleben. Die Hindus und die Muslime, und neuerdings auch viel tibetische Buddhisten.«
    Sie führt mich in die Tiefgarage: »Melden Sie sich, wenn Sie wieder einmal in der Gegend sind«, sagt sie. Und ich bilde mir ein, dass etwas Mütterliches in diesem Abschied liegt.

Ein feiner Ausblick
    Am nächsten Morgen suche ich das Zentrum von Everests Wirken in Dehra Dun auf. Der Survey of India, gegründet 1776 von der Britischen Ostindien-Kompanie und heute die indische Behörde für Vermessungswesen, hat den Great Trigonometric Survey beerbt. Die Reliquien von Lambton und Everest werden in einem nicht öffentlichen Museum verwahrt. Der Hauptsitz der Behörde liegt hinter schwarzen Metalltoren in einer Parkanlage im Osten der Stadt, in der Militärfahrzeuge auf- und abfahren. Ein Bediensteter bringt mein Gepäck in das Nebenzimmer. Eine freundliche Dame namens Renuka führt mich über den Hof. Sie öffnet die Tür zu einem luftigen Raum mit hohen Wänden im zentralen Gebäude der Anlage.
    Vor mir steht der Große Theodolit, jenes mehr als mannshohe Gerät, das die britischen Wissenschaftler während ihres neununddreißig Jahre dauernden Projektes auf Lasttieren durch den ganzen Subkontinent kutschiert haben. Ich peile durch sein Fernrohr hinaus aus dem Fenster. Die Scheiben sind mit der Zeit dunkel geworden, ich erkenne nur undeutliche, gelb-braun gefärbte Baumkronen. Die Frau führt mich weiter. Sie zeigt mir die sogenannten Compensation Bars. Ich wiege die antik wirkenden Stangen in beiden Händen. Sie sind aus zwei verschiedenen Metallen gefertigt. »Dadurch reagierten sie unterschiedlich auf Temperaturveränderungen«, erklärt meine Begleiterin. »So behielten sie immer die genaue Länge von zehn Fuß.«
    Im Field Book William Lambtons studiere ich die Notizen des Leiters des Great Trigonometric Survey in feiner, gleichmäßiger Handschrift. Das Buch zerfällt fast beim Durchblättern. Die Eintragungen sind Zeugnisse eines

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