Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
Mund.
Es dämmert bereits, als ein Kamelkutscher schreit: »He, Bruder, spring auf.« Die Transportfläche ist höher als erwartet. Ich muss meinen Rucksack hinaufwerfen. Der Mann und sein Beifahrer ziehen mich hinterher.
Der Stummelschwanz unseres Kamels leuchtet im Lichtkegel der Autoscheinwerfer. Über mir tanzt der sehnige Kopf des Kamels, das den folgenden Wagen zieht, wie eine überdimensionale Schlange. Um den Hals des Tieres hängt eine Kette mit dicken Plastikperlen und roten Quasten. Das Schaukeln des einachsigen Wagens und das Klötern des Geschirrs beruhigen mich. Der Kutscher spricht mit rauer Stimme. Sein Tonfall ist hart. Im Mund hat er nur ein paar zerbröselte Stummel anstelle von Schneidezähnen. Er fahre Hirsestroh nach Delhi, er verkaufe es auf den Märkten in der Vorstadt. »Die Bauern verfüttern das Stroh an ihre Kühe.« Eine Nacht hat er in der Hauptstadt geschlafen. Jetzt ist er auf dem Weg zurück in sein Dorf. Der Beifahrer schweigt.
Die Reste der Halme liegen auf der Ladefläche herum. Wir fahren von der Dämmerung in die Nacht. Wir sind die langsamsten Verkehrsteilnehmer, aber der Autoverkehr strömt fast unmerklich an uns vorbei. Nur einmal, als ein Dreiradtaxi einschert und hart vor einem der Zugtiere bremst, ruft der Kutscher dem Kollegen auf dem Gefährt vor uns zu: »Pass auf, Bruder!«
Ein Mann springt aus der Dunkelheit von einer der vorausfahrenden Kutschen auf unseren Wagen auf. Sein Gesicht ist bis auf die Augen in ein Tuch gehüllt. Die drei hüllen sich in Decken, kauen Tabak und rauchen Bidis. Irgendwann regt
sich der Beifahrer doch. Er stimmt ein monotones Lied an. Langsam döse ich ein.
Eine Stunde später wache ich von blubbernden Geräuschen wieder auf. Eine Kutsche nach der anderen rangiert an ein großes Zementbecken am Straßenrand, aus dem die Tier lange und grunzend trinken. »Wir sind da«, sagt der Kutscher. »Dies ist Baraut.«
Ich bin völlig durchgefroren. In der Stadt gibt es nur ein Hotel. Es ist verhältnismäßig teuer. Aber im Zimmer steht ein funktionierender Heizlüfter, und in der Dusche hängt ein Durchlauferhitzer. Ich schicke einen Boy zur Apotheke, um Antibiotika zu besorgen. Er kommt mit zwei einzelnen Pillen zurück. Sie stecken in einer komplett unbeschrifteten Papptüte. Auch auf den Tabletten finde ich keine Bezeichnung des Wirkstoffs. Ich frage mich, wie ich meine Erkältung mit zwei Gaben Antibiotika kurieren soll ohne Chance, mir entsprechenden Nachschub zu besorgen. Ich nehme eine heiße Dusche, drehe den Heizlüfter hoch und stopfe gefülltes Fladenbrot und ein Gemüsepulao, ein Gericht aus gekochtem Reis, in mich hinein, das viel zu scharf ist für meinen brennenden Rachen. Dann zettele ich eine Diskussion mit dem stellvertretenden Hotelchef an, um mich von einem weiteren Angestellten in die Stadt fahren zu lassen.
Es ist halb zehn Uhr abends. Aber alle Geschäfte scheinen geschlossen, die Hauptsraße ist menschenleer. Schließlich finden wir eine Apotheke. Der Alte, der sie führt, schneidet mir eine Zwölferreihe Antibiotika aus einem riesigen Block. »Natürlich sollte man davon nicht ein oder zwei nehmen, sondern wenigstens sieben, acht. Aber das macht hier keiner so.«
Zurück im Hotel, erzählt mir der stellvertretende Chef, dass zwei Ausländer in seinem Haus wohnen. »Aus Thailand
und aus Deutschland. Sie arbeiten an einer Gasleitung, Willst du sie sehen?« Er verspricht, sie zu rufen, aber ich schlafe ein, sobald ich wieder auf meinem Zimmer bin.
Ich schwitze die ganze Nacht unter meinem Sommerschlafsack. Ich wache nur auf, wenn der Strom ausfällt und der Heizlüfter mit einem schlagenden Geräusch in die Ruhestellung übergeht. Aber nach einer halben Stunde springt er regelmäßig wieder an.
Am nächsten Vormittag ist alles zu hell: der diesige Himmel, der weiße Teller, auf dem mir im Restaurant vor dem Hotel ein Omelette serviert wird. Es muss die Folge der Medikamente sein. Zu den Antibiotika schlucke ich weiter die Tabletten, die mir der brahmanische Apotheker gegen die Schmerzen im Fuß gegeben hat. Ich fühle mich wie ein Junkie. Und flüchte sofort wieder in mein Bett. Vierundzwanzig Stunden lang verbarrikadiere ich mich in meinem Zimmer. Ich studiere die verwischten Muster des imitierten Perserteppichs auf dem Kachelboden, lausche den Wisch- und Feudelgeräuschen der Angestellten und lasse mir Berge von Fladenbrot und Gemüse bringen. Am Abend genieße ich den Inhalt einer kleinen Flasche Old Monk-Rum,
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