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Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)

Titel: Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Schulz
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Wahrheit. Indien ist groß.«
    Im English Book Depot treffe ich einen Amerikaner namens Jack. In meiner Hotelbar trinken wir ein Bier. Jack ist Kalifornier,
er trägt Vollbart und kurze Haare, den Apple-Computer verstaut er in einer Stoff-Umhängetasche. Er sei freier Journalist, sagt er. Vorher habe er in Dehra Dun Englisch unterrichtet. »Aber jetzt bin ich unabhängig.« Zwei Aufträge bekomme er durchschnittlich im Monat. »In Indien kann man davon leben. Das ist Outsourcing andersrum.«
     
    Am Nachmittag des folgenden Tages klingele ich an der Gartenpforte einer Frau, der die Helden des Unabhängigkeitskampfes vor acht Jahrzehnten den Kopf tätschelten. Die als kleines Mädchen mit den Architekten der indischen Republik am Teetisch saß. Sie ist Schriftstellerin und die Nichte des ersten indischen Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru. In einem Bungalow im feinen Osten der Stadt tritt Nayantara Sahgal durch einen Vorhang in ihr Wohnzimmer, eine kleine, alte Dame mit lockigen schwarzen Haaren und feinen Gesichtszügen. Sie bietet mir europäisch zubereiteten Tee und Sandwiches mit frischen Salatblättern an. Auf den Tassen hocken rote und grüne Filzmützchen. An der Wand hängt ein Gauguin. Das Nachmittagslicht fällt auf einen Beistelltisch, auf dem ein Bildband der Maler der mexikanischen Revolution liegt.
    Ich gestehe Nayantara Sahgal, dass ich bisher nur ein einziges Werk von ihr gelesen habe, und davon auch nur wenig mehr als das erste Kapitel. Die Geschichte von Mistaken Identity hat mich im Hotel Paradise in Sagar einigermaßen über die trübe Winterstimmung gebracht. Aber das stört meine Gastgeberin überhaupt nicht. Sie hat jene dicken Ringe unter den Augen, die zu einem Statussymbol indischer Intellektueller und Manager geworden sind. Sie trägt eine Weste mit Blumenmotiven unter der Strickjacke. Ich blicke durch das Terrassenfenster auf eine Hügelkette, die sich düster im Norden
erhebt. Dort muss der Weg hinauf in den Himalaya sein. »Ist auch genug Käse auf dem Sandwich?«, fragt sie besorgt.
    Wir sprechen über die Entwicklung Indiens seit der Unabhängigkeit. Über die ehemalige Blockfreiheit und die indische Interpretation des Sozialismus. Über die wirtschaftliche Öffnung des Landes und seine erstarkte Position in der Weltpolitik.
    »Dieser ganze Fortschritt wäre ohne Nehru nicht möglich gewesen«, sagt Nayantara Sahgal. »Er hat die India Instituts of Technology ins Leben gerufen, die Kaderschmieden für Ingenieure. Er hat die Grüne Revolution angeschoben und Indiens Atomprogramm. Heute ernten wir die Früchte dieser Anstrengungen. Die Macht im Land hat sich verlagert, in vielen Gegenden im Norden haben nicht mehr die Großgrundbesitzer den meisten Einfluss, sondern die Kleinbauern. Leute wie Lalu Prasad Yadav aus der Kaste der Ziegenhirten machen jetzt Politik. International haben wir eine neue Rolle gefunden, wirtschaftlich wie politisch. Die demokratische Entwicklung in diesem Land wird weitergehen. Indien ist stabil. Es mag interne Probleme geben, Anschläge und Terrorismus. Aber diese Probleme werden absorbiert. Weil Indien zu groß ist und zu stark. Weil die Menschen hier frei sind.«
    Ich frage sie, wie es war, in einer Familie von Widerstandskämpfern aufzuwachsen.
    »Wissen Sie, unsere ganze Familie war damals involviert«, sagt sie. »Wir Kinder waren davon nicht ausgeschlossen.« Sie blickt nachdenklich auf den Fußboden. »Der Freiheitskampf war eine emotionale Sache, eine Sache, die von Herzen kam. Leute wurden inhaftiert, sie kamen wieder frei wie mein Onkel. Das war Thema beim Mittagessen, beim Teetrinken. Es war ein Kampf, an dem alle teilnahmen. Aber eben kein gewalttätiger Kampf. Es gab keinen Hass.«
    »Sie haben ja auch viel von den Briten übernommen.«
    »Natürlich, der Lebensstil meiner Familie war eine Mischung aus Ost und West. Wie viele Familien dieser Klasse sprachen wir in der Schule Englisch. Das tägliche Leben war britisch beeinflusst. Die europäische Kultur hat uns sehr bereichert. Es war ein Paradox: Wir hassten die britische Herrschaft, aber wir liebten die britische Kultur. So sind wir eine Mischung geworden, das beste aus beiden Kulturen.«
    Auf dem Kaminsims steht eine Reihe von Fotos: ein Bild von Jawahrlal Nehru mit Mütze, schwarzer Brille und weißer Kappe, liebevoll hält er seine Frau im Arm. Ein Foto von Frida Kahlo mit melancholischem Gesichtsausdruck. Sahgal greift ein Foto von Ho Chi Minh. »Kennen Sie diesen Mann?«, fragt sie. Sie

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