Indien zu Fuß: Eine Reise auf dem 78. Längengrad (German Edition)
überzogen. Endlose Abfolgen von Chips- und Pepsiständen haben auf der Landstraße nach Norden die traditionellen Teehäuser ersetzt. Irgendwo am Straßenrand liegt ein Büffel, dem die Hufe gereinigt werden. An anderer Stelle läuft ein Mann hinter einer Kutsche her; mit einem Stock schlägt er dem müden Pferd in die Wade.
Am späten Vormittag reißt die Besiedlung auf. Senf- und Reisfelder werden von grün und blau leuchtenden Kanälen durchzogen, an ihren vertrockneten Rändern hat sich eine weiße Salzkruste abgelagert. Plötzlich bin ich in der tiefsten Provinz. Die Rufer sind wieder da, verloren wirkende Männer, die in den Ortseingängen stehen und mich fröhlich anschreien.
Oder ihre Mitmenschen lautstark informieren: »He, da kommt ein Fremder.« Die Motorradfahrer sind besorgt und dreist zugleich. Sie scheren auf den Seitenstreifen ein und versperren mir den Weg, um mit zumeist forderndem Ton zu fragen, ob ich mitfahren möchte.
Auf halbem Weg in die Kleinstadt Bagpat mache ich Rast unter der ausladenden Krone eines Mangobaumes, als eine Gruppe Nilgaiantilopen in den nahen Feldern auftaucht. Die Tiere staksen durch das Grün und bleiben immer wieder stehen, um Witterung aufzunehmen. Plötzlich dreht der Wind, ihre Ohren drehen mit. Sie hören irgendein Geräusch und nehmen geschlossen Reißaus. Meine Halsschmerzen werden immer deutlicher. Aber meine Sorgen halten sich in Grenzen. Was kann mir jetzt noch passieren? Ich bin so nah am Ziel. Ich werde mir ein Antibiotikum kaufen, ich werde Schmerzmittel nehmen. Und einfach weitermarschieren, ganz gleich in welchem Zustand. Ich will nur noch den Himalaya erreichen. Mit dem würzigen Geruch junger Hanfpflanzen in der Nase, die im Straßengraben sprießen, schlafe ich ein.
Nach einer zu langen Siesta erreiche ich am späten Nachmittag durch Zuckerrohrfelder und kleine Dörfer, vor deren Häuser die Bewohner Kuhfladen zu Drei-Meter-Türmen stapeln, schließlich Bagpat. Ein Bauer mit Strickpullover und Wollmütze springt von seinem leuchtend roten Traktor der Marke Escort und lädt mich in ein Café ein.
»Ich bin Brahmane«, sagt er. »Ich habe Einfluss. Ich habe fünf Diener. Ich bin ein wichtiger Mann in dieser Stadt. Aber hier solltest du nicht laufen. Hier ist es etwas kriminell. Du kannst bei mir schlafen. Und dann im Bus nach Dehra Dun fahren. Ein Hotel gibt es hier sowieso nicht.«
Wir setzen uns an einen Metalltisch in dem Café. Es ist so eng, dass es mir nicht gelingt, meinen Rucksack sinnvoll
zu verstauen. Die Bedienung muss ihn ständig zwischen dem Tresen und dem Kühlschrank voller Bisleri-Flaschen und Konfekt hin- und herschieben, um die Gäste zu versorgen und uns Kaffee zu servieren.
»Wieso ist es hier denn kriminell?«, frage ich so laut, dass es auch unsere Tischnachbarn hören müssen. Aber niemand reagiert. Obwohl ich natürlich Aufmerksamkeit errege. Bei den herumsitzenden Jugendlichen, die mich schüchtern angrinsen, ebenso wie bei dem Paar am Nebentisch, das mich neugierig taxiert.
Der Bauer weicht meiner Frage mit einer nachlässigen Geste aus. Er spricht über seinen nagelneuen Traktor. Dreihundertfünfzigtausend Rupien hat er dafür bezahlt, umgerechnet sechstausend Euro. Er schwärmt von der Kapazität der lokalen Zuckerrohrfabrik. Sein Bruder kommt rein; er legt seinen Motorradhelm auf den Tisch und setzt sich zu uns. Mein Begleiter erklärt ihm gönnerhaft, wer ich bin, woher ich komme und was ich in Indien tue. Ich bin mir sicher: Im Geiste stellt er mich bereits seinem Vater auf der heimischen Zuckerrohrfarm vor. Seinen vier anderen Brüdern und deren ältesten Söhnen. Es ist mir unangenehm, wie dreist er mich vereinnahmt. Ich stehe auf.
Der Bauer läuft mir hinterher, als ich vor dem Café stehe. »Aber du fährst mit dem Bus!«, ruft er. »Die Haltestelle ist da vorn.« Er weist die Hauptstraße hinunter. Kaum habe ich die Bushaltestelle passiert, da tuckert er gemächlich auf dem Motorrad an mir vorbei. Aber er hält nicht an. Er sagt nichts. Und ist bald im Verkehr verschwunden.
Fünfzehn Kilometer sind es in die nächste Stadt, Baraut. Es ist fünf Uhr nachmittags. Mutlos hangele ich mich von Pepsi- zu Pepsistand und schaue den Kamelkarawanen hinterher. Morgens kamen sie mir überladen mit riesigen weißen
Ballen entgegen. Jetzt fahren sie leer zurück in Richtung Norden; meist drei, vier Wagen mit Gummirädern. Die Kutschen sind aneinandergebunden, sodass ganze Züge entstehen. Die Tiere haben Schaum vor dem
Weitere Kostenlose Bücher