Indigo - Das Erwachen
nahm ihr das letzte bisschen Selbstbeherrschung. Auf wackeligen Beinen und mit zitternden Lippen stand sie auf.
Den Blick unverwandt auf Kendra gerichtet, betrat Raphael den Gemeinschaftsbereich. Es war totenstill. Sein Gesicht war eine Grimasse des Entsetzens, und jeder Schritt schien ihn zu schmerzen. Auf seiner Jeans schimmerte ein dunkler Blutfleck. Kendra wusste nicht, ob das Blut seines war. Doch was Kendra das Herz zerriss, war etwas anderes. Wenn sie überhaupt noch einen Funken Hoffnung für ihre Zukunft gehabt hatte, dann zersprang er jetzt.
Raphael trug Bennys toten Körper in seinen Armen.
20. KAPITEL
Als die Kinder Raphael den Weg zu Kendra durch den Gemeinschaftsraum freimachten, berührten sie einer nach dem anderen den Kopf des toten Jungen. Rafe trug Benny so, als würde er nur schlafen. Dabei sah er selber so aus, als würde er gleich zusammenbrechen. Vor Kendra blieb er stehen, und sie legte eine zitternde Hand an Bennys Wange.
Seine Haut war kalt.
Sie wollte das Blut von ihm abwaschen, Leben in seine kleinen Lungen hauchen und hören, wie sein Herz wieder sanft zu schlagen begann. Doch es war zu spät. Sie dachte an sein kurzes Leben, das jene, die ihn hätten lieben sollen, zu einem Leidensweg gemacht hatten â und nun das.
Als sie sah, dass Rafe noch immer sein Armband trug, umklammerte sie das Gegenstück in ihrer Hand fester â das Geschenk, das er Benny gemacht hatte. Raphael sah mit wut- und schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr herab.
Ihr fehlten die Worte, um ihn zu trösten.
âWir k-können ihn ⦠nicht h-hierlassen.â Raphael musste sich jedes Wort einzeln abringen. âDas hier ist n-nicht mehr unser Zuhause.â Er schüttelte den Kopf und blickte auf Bennys Gesicht. âIch weià nicht, wie ich ihn bestatten soll.â
Raphael brach vor ihr in die Knie und klammerte sich an Benny fest. Als Kendra ihn, den Leichnam des kleinen Mannes zwischen ihnen, festhielt, begann er zu schluchzen. Rafe war verletzt, nicht nur äuÃerlich, sondern auch innerlich. Seine innere Verbindung zu ihr und den anderen musste durchtrennt worden sein, als er verletzt wurde. Deswegen hatte sie ihn nicht mehr spüren können und gedacht, dass er tot war. Im ersten Moment, als sie Raphael â lebendig â in den Gemeinschaftsbereich hatte laufen sehen, war sie unendlich froh gewesen, dass er nicht ums Leben gekommen war. Doch nachdem sie begriffen hatte, wen er im Arm trug, war ihr klar geworden, dass er nur zu gerne die Stelle des Jungen eingenommen hätte.
Der Tod hatte mehr eingefordert als einen kleinen Jungen.
âIch bin schuld daran. Ich habe ihn alleingelassen. Ich hätte vorsichtiger sein müssen.â Jetzt strömten die Worte nur so aus ihm heraus. âSie sind Benny hierher gefolgt. Er hatte so eine Angst.â
âNein, du hast versucht, mich davor zu warnen, zu viel Aufsehen zu erregen. Aber ich habe nicht auf dich gehört.â
Kendra hörte Schritte hinter sich. Erst als sie auch die dazugehörige Stimme hörte, wusste sie, wer es war.
âWas mit diesem Jungen passiert ist ⦠und dem Zuhause, das ihr euch aufgebaut habt ⦠all das ist ihre Schuld. Trauert um den Jungen, aber gebt euch nicht die Schuld an seinem Tod.â Gabriel Stewart sprach ganz offen zu ihnen. âEs gibt einen Ort, an dem wir ihn würdevoll beerdigen und um ihn trauern können.â Gabriel sprach jetzt so laut, dass alle ihn hören konnten. âMeine Mutter ist dort ebenfalls begraben.â
âUnd wo?â, fragte Kendra.
âNicht weit von hier. Wer mich dorthin begleiten will, ist herzlich eingeladen.â
âSind wir dort in Sicherheit? Wenigstens für eine Nacht?â, fragte sie. âWir haben viele Verletzte. Auch Raphael ist verwundet. Er ist so blass. Ich befürchte, dass er viel Blut verloren hat.â Sie drehte sich zu Rafe um, der völlig benommen wirkte. Falls er verletzt war, spielte das für ihn gerade keine Rolle. Sie musste sich um die beiden kümmern, um Raphael und um den toten Benny. âWir brauchen medizinische Versorgung, und die Kinder müssen essen. Sie brauchen â¦â
Als Gabriel neben ihr und Raphael in die Knie ging, hörte sie auf zu reden. Er legte seine Hände auf ihre Schultern.
âIch weiÃ, dass du mich nicht kennst, aber ich will euch helfen. Du musst das hier nicht alleine durchstehen.â Er blickte auf Benny und
Weitere Kostenlose Bücher