Indigo - Das Erwachen
zu, wie sein Neffe vom Tisch aufsprang, ihm den Rücken zuwandte und aus dem Fenster starrte, das auf einen Innenhof hinausging. Rayne wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wollte helfen, aber sie hatte keine Ahnung von Gabriels Schmerz. Und da begriff sie.
Deswegen war er zu seinem Onkel gekommen. Gabes Fähigkeiten gingen einher mit einer tief verwurzelten Wut, und offenbar erhoffte er sich von Reginald eine Antwort auf dieFrage, wie er diese Wut bändigen konnte. Von Wut und Frustration über Dinge, die man nicht kontrollieren konnte, verstand Rayne so einiges. Diese Lektion hatte Mia sie gelehrt.
Vielleicht waren sie und Gabriel ja doch nicht so unterschiedlich. Aber gegen seinen anscheinend Jahre alten Schmerz anzukämpfen kam ihr hoffnungslos vor.
âDu hast mich gebeten, dir dabei zu helfen zu verstehen, was gerade mit dir geschiehtâ, sagte Onkel Reginald. âUnd ich glaube tatsächlich, dass ich etwas für dich tun kann. Aber das geht nur, wenn du es zulässt.â
Rayne sah ihn erstaunt an. Sie hätte nicht gedacht, dass er eine Lösung parat hatte, und Gabe ging es offenbar genauso. Er starrte den Mann an, als hätte er ihm einen Faustschlag verpasst.
Onkel Reginald hatte einen Plan. Gabriel wirkte verdammt skeptisch, und Rayne hatte so eine Ahnung, dass er es vorerst auch bleiben würde. Ihr Handy vibrierte wieder, und sie entschuldigte sich und verlieà das Esszimmer, um die Nachricht zu lesen.
Sie hatte den Ton nicht wieder eingeschaltet, weil sowieso alle Nachrichten von Mia gewesen waren. Ihre Schwester hatte mehrere SMS geschickt und immer wieder auf die Mailbox gesprochen. Vor dem Verschwinden von Lucas hatte Rayne manchmal wochenlang nichts von ihr gehört. Doch Luke und das Museumsfiasko hatten alles geändert. Bislang hatte Rayne nicht auf die Nachrichten ihrer Schwester reagiert.
Sie wusste auch gar nicht, was sie hätte sagen sollen. Wenn sie zugab, dass sie im Museum gewesen war, würde Mia ausrasten. Wenn sie leugnete, dass sie dort gewesen war, würde Mia ebenfalls ausrasten. Und jetzt hatte ihre Schwester auch noch angefangen, sie zu belügen. Das glaubte Rayne jedenfalls. Sie hatte geschrieben, sie wolle nur sichergehen, dass es Rayne gut ging. In einer weiteren Nachricht schrieb sie, dass sie in Raynes Apartment gewesen sei, nachdem ihr der Hausmeister aufgeschlossen hatte.
Mia hatte doch tatsächlich die Dreistigkeit besessen, Raynes Festnetznummer weiterzuleiten, sodass alle Anrufe bei ihr landeten. Tat sie das, um sie auszuspionieren, oder verfolgte sie gute Absichten? Rayne hatte keine Ahnung mehr. An sich war es ihr egal, dass ihre Schwester ihre Anrufe entgegennahm â aber wenn Lucas noch einmal versuchte, sie zu erreichen, würde sein anderes Schwesterherz abheben. Was würde er denken? Ihm würde nur eine Wahl bleiben: davon auszugehen, dass Rayne ihn verraten hatte und gemeinsame Sache mit Mia machte.
âVerdammt!â Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was ihre Schwester dem Hausmeister erzählt haben musste, um sein Mitleid zu erregen. Meine kleine Schwester ist verschwunden, bla, bla, bla . Okay, der Teil stimmte ja. Aber Mia liebte das Drama und war sich noch nie zu schade gewesen, die Wahrheit so zu verdrehen, wie es ihr gerade passte.
Doch erst mit ihrer neusten SMS hatte sie ihren absoluten Tiefpunkt erreicht. Sie benutzte Floyd Zilla, um an Rayne heranzukommen.
Ich hab deine Echse gefüttert. Soll ich im Tierheim anrufen?
Rayne kannte das Fressverhalten ihres Leguans und hatte ihm genug Futter und Wasser hingestellt, ehe sie gegangen war. AuÃerdem hatte sie einen Plan B. Eine Freundin, die im selben Haus wohnte, hatte einen Schlüssel zu ihrem Apartment und schuldete ihr noch einen Gefallen. Da ihr Handy kaum mehr Akku hatte, musste sie sich jetzt gleich um Floyd kümmern. Eine SMS an ihre Freundin, eine Antwort-SMS, und schon war das Problem gelöst. Sie schaltete das Handy aus.
Mia hatte alle Register gezogen, um ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. Und ja, es funktionierte. Aber trotzdem. Total unfair .
Burbank
âWo zur Hölle warst du?â, bellte Boelens, der mit einer Akte in der Hand in der Tür zu OâDells Büro in der unterirdischen Einsatzzentrale stand. âDu siehst völlig fertig aus.â
Boelens hatte sein lidloses Reptilienstarren zurück. Wäre OâDell nicht der Empfänger dieses Starrens gewesen, hätte er es
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