Indigo (German Edition)
Beispiel Schreibübungen. Versuchen, das zu visualisieren, was einem Angst macht.
– I-in Ihrem Buch, sagte ich. Da vergleichen Sie … also … ganz am Anfang, also … da schreiben Sie, dass die Kinder wie dieser versunkene Stahl in …
Eine etwas längere Pause. Ich machte eine entschuldigende Gebärde.
– Ja, also, sagte Frau Häusler-Zinnbret, da haben Sie vermutlich die alte Ausgabe gelesen. Hab ich mir eigentlich schon gedacht. Macht aber nichts, der Fehler lässt sich leicht beheben.
Sie stand auf und ging zu einem Regal, nahm ein Buch heraus und brachte es mir. Es sah genauso aus wie das, das ich gelesen hatte. Als ich es aufschlug, sah ich, dass das Vorwort durch ein neues, viel kürzeres ersetzt worden war. Dafür gab es jetzt eine Schwarzweißabbildung, die ein Kind in einem Gitterbett zeigte. Das Kind, etwa zwei oder drei Jahre alt, stand aufrecht und hielt sich mit einer Hand an den Holzstäben fest. Es weinte, aber das Gesicht wirkte nicht verzweifelt, eher neugierig und erleichtert, als wäre derjenige, den das Kind lange herbeigesehnt hat, endlich ins Zimmer gekommen.
– Das Bild habe ich aufgenommen, sagte Frau Häusler-Zinnbret. Mit einem Teleobjektiv.
Während sie das Bild näher an mein Gesicht führte, legte sie mir eine Hand auf den Rücken.
Tommy
Tommy Beringer wurde am 28 . Februar 1993 in Rochester, Minnesota, geboren. Er war das dritte Kind von Julian Stork, einem Elektrotechniker und Informatiker, und Roberta Beringer, die bei der Geburt von Tommy gerade mal vierundzwanzig Jahre alt war. Ihrerstes Kind hatte sie bereits mit sechzehn bekommen. Das Paar war Ende der Achtzigerjahre von Sharon Springs, Kansas, nach Rochester gezogen, beide stammten aus kinderreichen Familien. Julian hatte sein Studium an der University of Kansas School of Engineering mit Auszeichnung abgeschlossen und fand bald einen relativ gut bezahlten Job, der es Roberta ermöglichte, zu Hause zu bleiben und auf die Kinder aufzupassen.
Kurz nach der Geburt von Tommy wurde Roberta krank. Es begann mit Gleichgewichtsstörungen und tagelang andauernder Übelkeit. Später kamen starker Durchfall und kurzzeitiger Verlust der Orientierung dazu. Da Roberta auch schon nach ihren ersten zwei Geburten gesundheitliche Probleme gehabt hatte, dachte sie sich nicht viel dabei und ging nicht zum Arzt. Aber kurz darauf wurden auch ihre beiden Söhne Paul und Marcus krank. Und sie zeigten ähnliche Symptome.
Ein Arzt vermutete ein Problem mit der Ernährung. Ein anderer meinte, dass es sich bei den Symptomen vielleicht um allergische Reaktionen auf bestimmte beim Bau der Wohnung verwendete Kunststoffe handeln könnte. Als auch Julian an starken Kopfschmerzen und Übelkeit zu leiden begann, beschloss die Familie, umzuziehen. Sie gaben ihre Wohnung auf und bezogen ein kleines Haus, für dessen Kauf sie eine Hypothek aufnehmen mussten.
Die Symptome klangen nicht ab, verstärkten sich sogar. Bald bemerkte Julian, dass es ihm besserging, wenn er in der Arbeit war, und dass seine rasenden Kopfschmerzen immer dann einsetzten, wenn er einige Stunden zu Hause verbracht hatte. Am Wochenende plagten sie ihn den ganzen Tag.
Eine Woche Urlaub auf der Farm von Robertas Eltern in Sharon Springs brachte auch keine nennenswerte Verbesserung. Es musste also doch etwas mit der Ernährung zu tun haben. Eine makrobiotische Diät wurde versucht, auch ein Rohkost-Monat. Am Ende des Monats musste Roberta eines Nachts mit akuter Atemnot ins Krankenhaus gebracht werden. Dort erholte sie sich relativ schnell von ihren Symptomen. Die Ärzte sagten ihr, dass sie vollkommen gesund sei, wiesen aber darauf hin, dass eine frühe Mutterschaft und die seither konstant hohe Nervenbelastung, die die Versorgung von drei kleinen Kindern für eine junge Frau selbstverständlich mit sich brachte, oft derartige Ermüdungserscheinungen hervorrufen könne. Sie rieten ihr zu einem Kuraufenthalt und zur Einstellung eines Halbtags-Kindermädchens.
– Heißt das, ich bin verrückt?, fragte Roberta die Ärzte.
Sie versicherten ihr, dass alles in Ordnung mit ihr sei. Sie sei sehr müde und übertrage das möglicherweise auch auf ihre Kinder. Es würde ihr und den drei Söhnen bestimmt guttun, eine neue Person im Haushalt zu haben.
Julian gefiel die Idee mit dem Kindermädchen nicht. Er machte sich, berechtigterweise, Sorgen um die finanzielle Situation der Familie. Immerhin hatten sie gerade dieses Haus hier gekauft und waren weit davon entfernt, es als ihr
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