Infektiöse Visionen (German Edition)
zurück, jetzt war eine Nachtschicht angesagt.
Ich hob mein Fahrrad durch das flache, sanft plätschernde Bächlein des Teichüberlaufs, setzte es drüben auf den Forstweg und trat an. Richtung Friedrichsruh, was sonst? Das war der kürzeste Weg.
Und wenn ich nun schon mal dort war, konnte ich auch schnell ins Gästebuch schauen.
Inzwischen war es für mich schon fast Routine, die geheimnisvollen Botschaften in der blassblauen Schrift zu erwarten. Wie unheimlich und unmöglich diese stets auf mich ausgerichteten, in der Vergangenheit verfassten und in der Zukunft korrekt eintretenden Einträge waren, hatte ich ausgeblendet. Oder es war mir ausgeblendet worden.
Ich las von unten nach oben, von hinten nach vorn:
12.4.: Bei herrlichem Wetter... Blabla. Egon Stubenfeuer und Harry Schmidt.
Das war heute gewesen. Vielleicht spukten die beiden noch in der Nähe herum. Ich hätte sie zu gern mal gesehen.
11.4.: Leider lässt das Wetter heute zu wünschen übrig. Und man muss sich auch immer wieder ärgern über dumme Menschen, die in dieses Buch schreiben. Trotzdem viele Grüße an die lieben Wanderfreunde Gerda Köhnlein und Heiner Krauß. Egon Stubenfeuer und Harry Schmidt.
10.4.: Wir sind zwar nicht Egon Stubenfeuer und Harry Schmidt, aber uns gefällt es hier trotzdem. Unterschrift unleserlich.
8.4.: Viele Grüße an die lieben Wanderfreunde Egon Stubenfeuer und Harry Schmidt. Leider haben wir uns heute verfehlt. Vielleicht klappt’s beim nächsten Mal. Gerda Köhnlein und Heiner Krauß.
8.4.: Herrliches Wanderwetter, der Wald wird immer grüner. Egon Stubenfeuer und Harry Schmidt. P.S.: Man wundert sich schon, was für Leute in unser Wanderbuch schreiben. Auch wenn es hier offen im Wald ausliegt, es ist immer noch Privatbesitz und unterliegt gewissen Regeln!!!
7.4.: Ein Freund, lieber SeFo, ein guter Freund. Und als Dein Freund muss ich Dir leider sagen: Deine Welt wird sich noch sehr viel einschneidender verändern als Du es jetzt befürchtest, der Hausverkauf ist erst der Anfang. Aber egal, Du wirst damit fertig. Und jetzt hole endlich die Taschenlampe aus Deiner Gepäcktasche!
7.4.: Wer bist du? SeFo
Das war meine letzte Notiz gewesen, nachdem ich den „Scheiß-auf-Mathe“-Eintrag des geheimnisvollen blauen Fremden gelesen hatte.
Ein Freund? Wieso Taschenlampe?
Ich stellte das Buch in den Kasten zurück und tappte die paar Schritte zu meinem Fahrrad hinüber. In meinen Gepäcktaschen war keine... – da war die schwarze Stabtaschenlampe aus der Garage! Ungläubig staunend zog ich sie hervor, knipste sie an, starrte in ihren blendend hellen Strahl, der hier im Waldschatten sogar einen Lichtkegel auf den Kiesweg warf.
Ich musste sie vor dem Losfahren eingepackt haben, ja klar, irgendwie war mir die Handlung, sie aus dem Schub zu nehmen, schon noch bewusst. Und nun sollte ich wirklich in dieses Loch steigen?
Was heißt hier: „sollte“?
Ich mache, was ich will!
Zumindest mal hinschauen konnte ich ja. Mal von oben hineinleuchten. Inzwischen mochte sich der Staub des Einsturzes gelegt haben. Was konnte passieren? Und warum sollte ich DAS denn nicht wollen? Nicht auch wollen?
Wie – auch? Wer denn noch?
Der Staub. Ein nach Rauch schmeckendes Husten entwürgte sich meiner Kehle. Ich räusperte mich und schüttelte den Kopf. Besann mich. Die Taschenlampe in meiner Hand, wie eine Waffe. Ich war bestens vorbereitet.
Abenteuerlust ergriff mich; Mathe hatte ich vergessen.
Schon war ich den Hügel zum Gestrüpp hoch gestiegen und drang ein. Unwahrscheinlich, eigentlich unmöglich, dass hier noch jemand auf die Idee kam, den Berg dahinter zu erklimmen, die Ruinen zu suchen, das Loch zu entdecken.
Eben, du Idiot! Und deshalb solltest du verdammt vorsichtig sein!
Na, das war ja wohl klar. Vorsicht war immer gut. Denn wenn ich da oben einbrach, wenn ein anderes Loch sich auftat, vielleicht war überhaupt das ganze Gelände unterhöhlt und durchlöchert...
Das kann mich doch nicht schrecken!
Ich kam mir vor wie besoffen. Der Rausch trieb mich. Die Vernunft war ein kleiner, einsamer Rufer im Nebel dieses Rausches: ganz im Dunkeln, ganz weit weg, kaum zu hören, ein Nichts und Niemand.
Kaum zu hören, aber doch zu hören. Was? Ein Keuchen und Kratzen.
Quatsch!
Ein Röhren und Schaben.
Ich blieb stehen und lauschte.
Das war keine Einbildung. Noch nie hatte ich solche Töne gehört. Panisch klang das, hektisch, ganz und gar unmenschlich.
Jetzt war ich doppelt überrascht. Wieso doppelt? Das
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