Infektiöse Visionen (German Edition)
durchfallen?
Ich machte mich klein, faltete den Schloss-Plan und steckte ihn ein, las mir die Abiturprüfungs-Aufgaben durch.
Eselsohr zog sich kopfschüttelnd zurück und ließ mich in Ruhe.
Vielleicht war ja noch was zu retten.
Du gingst mir nicht aus dem Kopf, während ich diese Prüfung verbockte. Du, Vera Tangel. Dein Einmischen war so ahnungsvoll. Es war der Moment, der den Lauf dieser Geschichte änderte, denn etwas in mir warf ein Auge auf dich und ließ Myriam fallen. Ich ahnte, dass etwas geschah, aber entscheidende Wendungen ließ dieses Etwas in mir mich nur durchschauen, wenn es seinen Zielen dienlich war, und längst war ich ja im Dauerrausch.
Die zwei Stunden Vernunftanfall, in denen ich versuchte, zu retten, was ich zu retten vermochte, waren nur ein schwaches Restleuchten von Ehrgeiz und Verstand. Oder sagen wir: Das blaue Etwas ließ die zwei Stunden zu – um mir damit zu zeigen, dass es sich leisten konnte, sie mir zuzugestehen.
Aber ich will weg von geheimnisvollen Andeutungen und wieder zu den Fakten kommen.
Fakt war: Ich fiel durch. Mit Pauken und Trompeten. So derart rettungslos fiel ich durch, dass der Kollegstufenbetreuer mir abriet, mich zur Wiederholungsprüfung anzumelden. Ich solle mich erholen über die Ferien, am besten verreisen, total abschalten, wieder zu mir finden und dann eben das Jahr dranhängen. Ich war ja einer der jüngeren in meinem Jahrgang gewesen. Er gab mir ein Kärtchen mit den Sprechzeiten des Schulpsychologen. Mein Freifahrtschein in die Klapse, hätte ich den konsultiert und ihm alles offenbart, was mir seit März widerfahren war.
Denn Fakt war außerdem: Ich hatte ein ganz anderes Problem zu lösen. Etwas war passiert an jenem Tag im März, und es würde mich nicht loslassen – die Ehrenrunde konnte ich mir schlicht genauso sparen wie die Wiederholungsprüfung, so lange ich nicht herausfand, was mit mir los war und wer oder was mir da Botschaften aus der Zukunft in das Gästebuch im Wald schrieb.
Kapitel 9: Die Absperrung
Und deshalb war alles, was mich mein normales Leben betreffend hätte beschäftigen müssen, zweitrangig in den Tagen, die der Mathe-Prüfung folgten. Meine Mutter log ich an: Bestens gelaufen, hab ein saugutes Gefühl... – und sie atmete so sichtlich auf, dass mir noch mulmiger wurde. Was sein würde, wenn die Ergebnisse schriftlich kamen, blendete ich aus. Jetzt war erst mal Ruhe.
Myriam war verreist. Eigentlich hätte ich glücklich sein müssen, denn sie hatte mir ganz unerwartet einen gefalteten Zettel zugesteckt, als wir uns kurz vor den letzten Prüfungen noch mal in der Kollegstufen-Bücherei gesehen hatten. „Ich rufe Dich an, wenn ich wieder da bin“, stand darauf. Mehr nicht, aber das reichte doch wohl, um neue Hoffnung zu schöpfen. Vier Tage waren es bis zu ihrer Rückkehr. In dieser Zeit wollte ich das Problem lösen. Denn mit diesem Problem auf dem Buckel würden Myriam und ich nie zusammenkommen.
Ich würde mich nicht mehr zur Friedrichsruh treiben und zwingen lassen, in das Loch zu steigen, um wie eine Marionette darin herzustolpern, ohne mich dann später genauer daran erinnern zu können als an einen verwaschenen Traum – aus eigenem Antrieb und von eigenem Willen und Verstand gelenkt würde ich das Geheimnis ergründen.
Ich hatte mir besorgt: die größte Stableuchte, die im Baumarkt zu bekommen war, einen Bauarbeiterhelm, ein Seil und professionelles Schuhwerk. Das Zeug passte gerade noch in meine Satteltaschen, und die Maurerschuhe mit ihren Stahleinsätzen im Zehenbereich waren zum Radeln zwar nicht ideal, aber es ging so.
Auf dem Weg zum Wald machte ich an einem Briefkasten Halt. Der Umschlag, den ich einwarf, war an mich selbst adressiert, der Brief darin an meine Mutter gerichtet. Sie würde ihn natürlich öffnen, wenn ich heute Nacht nicht nach Hause käme. Wäre ich nur verschüttet, könnte man mich mit den Hinweisen in dem Brief finden und retten. Wäre ich nicht mehr zu retten, wüsste man wenigstens, was los war.
Natürlich rechnete ich damit, den Brief am nächsten Tag selbst in Empfang zu nehmen und ungeöffnet zu verbrennen. Was wirklich eintrifft, dachte ich beim Einwerfen mit dem feierlichen Gefühl, soeben mein Testament gemacht zu haben, was wirklich eintrifft, steht vielleicht schon im Gästebuch, wenn es gerade zur vollendeten Tatsache geworden sein wird.
Doch am Gästebuch-Kasten erlebte ich meine erste Überraschung: Er war leer. Buch und Bleistift waren
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