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Infektiöse Visionen (German Edition)

Infektiöse Visionen (German Edition)

Titel: Infektiöse Visionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manfred Köhler
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den Augenwinkeln zu und machte ein Geräusch durch die Nase. Das brachte mich zum Explodieren. Ich stopfte ihm den Einberufungsbefehl in die Brusttasche seiner Anzugjacke und fauchte:
    „ Mach das rückgängig!“
    Er erstarrte in der Bewegung. Ich hatte es gewagt, ihn zu berühren. Autotüren zuwerfen war verboten, berühren aber war tabu. Nicht denkbar in seiner Welt. Wie sollte er jetzt seine Würde bewahren mit dem zerknüllten Dokument in seiner Tasche?
    Ich sehe ihn da stehen, so aufrecht, dass man eine Wasserwaage an seinem Rücken hätte eichen können, den Mantel sorgfältig geglättet über dem linken Arm, die makellose Aktentasche in der rechten Hand, kein Stäubchen auf dem Einreiher, die Schuhe so glänzend poliert und ohne Schramme als habe er sie frisch aus dem Karton angezogen und nicht den ganzen Tag von Meeting zu Meeting getragen. Der perfekte Geschäftsmann – aber aus seiner Brusttasche beulte sich, wie eine groteske Blume, das zerknüllte Dokument. Er holte tief Luft in seiner Fassungslosigkeit.
    Da explodierte ich. Es war nicht beabsichtigt, ich war selbst überrascht. Ich konnte es nicht halten. Das Lachen brach aus mir heraus, so heftig, dass mir der Rotz aus der Nase geschleudert wurde. Ein Tropfen traf seine glänzenden schwarzen Schuhe, und das gab mir gar den Rest. Ich war unfähig, ein Taschentuch hervorzuziehen. Ich krümmte mich und brüllte vor Lachen.
    Der Anfall lähmte mich für Minuten. Als er vorüber war, stand ich allein in der Garage. Und fühlte mich so befreit. Das Thema Bundeswehr war erledigt, von meinem Vater hörte ich seitdem überhaupt nichts mehr. Da er seine Gewohnheiten minutengenau einhielt, war es leicht, ihm aus dem Weg zu gehen, und da er zudem darauf achtete, mir nicht zu begegnen, ist uns tatsächlich das Kunststück gelungen, im selben Haus zu wohnen und uns trotzdem über ein Jahr lang nicht gesehen zu haben.
    Aber die ganze Zeit rechnete ich damit, dass noch etwas nachkommen würde – sein großer Gegenschlag, die Rache für die erlittene Demütigung in der Garage. Natürlich ging er nicht wegen mir nach Brasilien, und die Trennung meiner Eltern wäre schon vor zwei Jahren keine Überraschung für mich gewesen. Dennoch kam es mir vor, als sei dieser Scheideweg die Konsequenz des für ihn unaussprechlichen Vorfalls.
    Mir fiel etwas auf, als ich auf dem Moorsee-Damm vom Fahrrad stieg, es auf den Ständer stellte und mich umsah.
    Die Sonne schien in kaleidoskopartigen Mustern durch die sanft wehenden jungen Birkenblätter auf das schwarze Wasser des Teiches. Dieser abgeschiedene Teil des Waldes war das perfekte Paradies. Undenkbar, dass ich hier vor wenigen Wochen darum gekämpft hatte, einer aussichtslosen Situation zu entkommen. Wie ein ferner Traum kam mir das vor.
    Mein ganzes bisheriges Leben schien mir wie geträumt zu sein, vor der Gegenwart keinen Bestand zu haben und mit der Zukunft gänzlich unvereinbar zu sein. Ich war ein Musterschüler gewesen, erzwungen von meinem Vater, aber durchaus auch dem eigenen Charakter gemäß – sofern mein Charakter nicht überhaupt nur das Frankenstein-Monster meiner Eltern war.
    Jedenfalls, noch vor einem Jahr war die Note 2 ein Ausdruck des Versagens gewesen, auch für mich selbst. Dann war ich schleichend immer schlechter geworden. Die ersten einstelligen Punktezahlen waren aufgetreten, kontrolliert und bestraft wurde ich ja nicht mehr. Der große Kontrolleur hatte mich aufgegeben, hatte sich von mir losgesagt. Auch mein Selbstbild hatte sich gewandelt. Ich traute mir gar nicht mehr zu, der Beste zu sein. Das Medizinstudium legte ich ad acta, es war eh nie mein eigenes Ziel gewesen. Sport sollte es sein, das lag mir, und dafür würden meine Noten allemal reichen.
    Nun, freilich, musste ich ernsthaft damit rechnen, die Abiturprüfung zu vermasseln. Aber statt mich zusammenzureißen und zu lernen, um die Katastrophe abzubiegen, stand ich in der Aprilsonne im Wald und starrte teilnahmslos ins Wasser.
    Warum saß ich nicht am Schreibtisch? Ich konnte mich gar nicht erinnern, ihn verlassen zu haben. Da war meine Mutter mit ihrer Eröffnung gewesen und der Schock des angeblich geplanten Hausverkaufs. Vielleicht war auch das nur wieder ein Warnschuss, eine besonders aufwendige Inszenierung. Nichts anderes schien mir auch die Bundeswehr-Einberufung, aus der Gegenwart betrachtet, gewesen zu sein.
    Als meine Mutter endlich draußen gewesen war, hatte ich das Buch wieder aufgeschlagen. Und dann?
    Egal, nichts wie

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